Der religiöse Placebo-Effekt.
Originaltitel: Requiem
Produktionsland: Deutschland
Veröffentlichungsjahr: 2006
Regie: Hans-Christian Schmid
Drehbuch: Bernd Lange
Produktion: Hans-Christian Schmid
Kamera: Bogumil Godfrejów
Montage: Hansjörg Weißbrich, Bernd Schlegel
Darsteller: Sandra Hüller, Burghart Klaußner, Imogen Kogge, Friederike Adolph, Anna Blomeier, Nicholas Reinke, Jens Harzer, Walter Schmidinger, Irene Kugler, Johann Adam Oest, Eva Löbau
Laufzeit: 93 Minuten
Tübingen und Umgebung, Anfang der 70er Jahre. Die junge Studentin Michaela verlässt ihr streng katholisches Elternhaus, um in Tübingen ein Studium zu beginnen. Nachdem sie die ersten Schritte in der neuen Freiheit genießt, fühlt sie sich mehr und mehr von inneren Stimmen verfolgt und glaubt schließlich von Dämonen besessen zu sein.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 07.07.2013)
Anneliese Michel starb im Alter von 25 Jahren in ihrem Heimatdorf Klingenberg am Main an Folgen einer Unterernährung. Die Epileptikerin war überzeugt vom Teufel besessen zu sein; an ihr wurde mehrmals der Exorzismus vollzogen. Dass diese mittelalterliche Praktik und ihr fundamentalistischer Nährboden in der BRD der 70er Jahre überhaupt noch möglich gewesen ist, stellt die eigentliche Tragödie hinter dieser Geschichte dar, weswegen Hans-Christian Schmids Film „Requiem“ sich auch nicht mit dem Tod der jungen Frau auseinandersetzt wie es in „Der Exzorzismus von Emily Rose“ gehandhabt wird, sondern die Vorgeschichte dieser Tragödie untersucht.
Ein religiöser Placebo-Effekt
Wer fest daran glaubt, krank zu sein, der ist es irgendwann auch. Genauso verhält es sich auch mit der Besessenheit. „Requiem“ postuliert einen religiösen Placebo-Effekt. Auch wenn die Möglichkeit einer tatsächlichen dämonischen Besessenheit bis zum Schluss offen gehalten wird, geht Schmid mit deutlicher Härte gegen die erzkatholische Erziehung von Michaela Klingler, so der Fiktivname von Anneliese Michel im Film, vor.
Moderne Gesellschaft vs. Religion
Im Fokus des Films steht der ewige Kampf der modernen Gesellschaft und ihrer Wissenschaft mit der Religion und ihrem Urvertrauen, in Gott der alles richten wird. Mit ihrem Studium gibt Michaela etwas von ihrer katholisch-tradierten Vergangenheit auf und begibt sich in Sexualität, Rockmusik und Alkohol. Dass ihr Elternhaus, insbesondere ihre Mutter die Studentenstadt Tübingen als Sündenpfuhl begreift, bleibt als Teil ihrer Erziehung aber immer auch Teil von ihr und schlägt in Form ihrer Epilepsie immer wieder zu. In diesen Momenten greift die Krankheit ihre tief verwurzelten Zweifel auf, die sie fortan zu Eingriffen des Teufels verklärt. Ihren zaghaften Ausbruchsversuchen zum Trotz bleibt Michaela immer in den Fängen ihrer Herkunft.
Keine blinde Religionskritik
Zum Tode Michaelas, von dem der Film nur in einer Einblendung vorm Abspann berichtet, führt letztlich eine Kausalkette, an deren Anfang in jedem Falle die falsch ausgelebte Religion steht. Die Verklärung der Epilepsie zur Besessenheit, die sowohl von ihrer Familie als auch von Michaela selbst ausgeht, fehlendes Vertrauen in die Medizin, die Gotteszweifel Michaelas, die den jungen idealistischen Pfarrer Borchert zum Exorzismusgedanken provoziert und die Sinnesleere aus der Michaela innerhalb ihrer religiösen Welt nicht ausbrechen kann und die sie schlussendlich zum Tod durch Hungern motiviert (ein direkter Selbstmord wäre ein unfrommer Akt). Ausgerechnet der alte Pfarrer Landauer führt den Fundamentalismus jedoch ad absurdum, wodurch Schmid verhindert, dass das Aufrollen des Falles Anneliese Michels zur blinden Religionskritik verkommt:
„Hörst du dich reden? Fratzen, Stimmen … Von was sprichst du? Vom Teufel? Natürlich glauben wir an ihn, wir glauben auch an Gott, Aber das sind Sinnbilder, Beispiele, an denen wir uns orientieren sollen. Das darfst du doch nicht Wort für Wort nehmen (…) Einbildungen! Etwas, das du dem Psychologen erzählen solltest.„
Wie von Schmid gewohnt gibt es auch in „Requiem“ Szenen, die in Erinnerung bleiben und aussagekräftige Zitate, die in die realismusverhaftete Inszenierung eingeflochten werden. Unvergessen bleibt etwa der Exorzismus, den der Zuschauer an der Seite des weltlich-rationalen Chemie-Studenten Stefan, Michaelas Freund aus der Stadt, beiwohnt. Ebenso die großartig gespielten Epilepsie-Anfälle Michaelas.
Verfälschte Figuren
„Requiem“ stellt sich in der Psychologisierung des Falles Anneliese Michel alles andere als schlecht an. Die Rekonstruktion der 70er Jahre und ihres Zeitkolorits gelingt, mithilfe von pessimistischer Farbmische liegt immer ein Schwall Depression über dem Film, die kein Hehl aus Ausgang dieses Einzelfalles macht. Insgesamt hätte sich Schmid gar noch etwas länger Zeit nehmen können, um Figuren und ihre Hintergründe weiter zu vertiefen. Annelieses Mutter als historische Vorlage etwa gibt noch deutlich mehr her als sie zu einer mürrischen Konservativen zu vereinfachen (Die real-existierende Person brachte ein uneheliches Kind in die Ehe ein, das im Alter von 8 Jahren starb und in einem separaten Grab abseits der Familie als uneheliches Kind begraben wurde!). Auch die Freundin und der Freund von Michaela bleiben weitestgehend blass, ihr Vater ist ein heimlich gegen die Ehefrau ankämpfender Gutmensch, der den Exorzismus verurteilt. In Wahrheit soll Michaela wohl in einer klar patriarchalisch-geführten Familie aufgewachsen sein. So erreicht Schmid zwar die TV-Ideallänge von ca. 90 Minuten, nicht aber den Status eines Meisterwerkes.
„Requiem“ vereint schmid-typische Stärken und rekonstruiert die Vorkomnisse, die zum Hungertod Anneliese Michels führten. Sein Film ist bedrückend, spannend und stellt die richtigen Fragen gegen die Alltagsdroge Religion und gegenüber denen, die sie missbrauchen.
76%
Bildrechte aller verlinkten Grafiken: © 23/5 Filmproduktion GmbH