(Alternative) Wahrheiten. Eine gesellschaftliche Momentaufnahme.
Originaltitel: Sieranevada
Alternativtitel: Sierra-Nevada
Produktionsland: Rumänien, Bosnien & Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 2016
Regie: Cristi Puiu
Drehbuch: Cristi Puiu
Produktion: Anca Puiu
Kamera: Barbu Bălăşoiu
Montage: Ciprian Cimpoi
Darsteller: Mimi Branescu, Petra Kurtela, Andi Vasluianu, Bogdan Dumitrache, Ana Ciontea, Dana Dogaru u.A.
Laufzeit: 173 Minuten Minuten
Das rumänische Drama Sierra-Nevada erzählt von der Zusammenkunft einer Familie, die sich nach dem Tod ihres Patriarchen wiedertrifft.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Regisseur Cristi Puiu erklärt anlässlich des Screenings seines neuen Films „Sieranevada“, der zentrale Gedanke hinter dem Film war der, dass wir genauso wenig tatsächlich über das politische Weltgeschehen wissen (können), wie wir eigentlich über unsere Familie, also über unser direktes Umfeld wissen. Natürlich ein wahrer, aber auch etwas banaler Grundgedanke. Kann dieser einen knapp drei-stündigen Film tragen? Er kann. Einmal mehr ist die Form hierfür der Grund. Der durch und durch rumänische Radikalrealismus von Puiu erreicht in diesem heimlichen Meisterwerk des Cannes-Jahrgangs 2016 eine wahrhaftig brillante Ausprägung. Obwohl der Film beinahe nie eine alltägliche Bukarester Wohnung verlässt, erzeugt Puiu ein unterhaltsames, multiperspektivisches Meinungsforum mit trockenem Humor. Eine Bestandsaufnahme einer Bukarester, rumänischen, vielleicht auch einer europäischen Gesellschaft. Und ein Meisterwerk.
Alltag als konsequenter Modus
Wir verfolgen eine Bukarester Familie der Gegenwart, die sich zum Leichenschmaus trifft, um sich feierlich an den verstorbenen Familienvater zu erinnern. Auf den ersten Blick eine denkbar unspektakuläre Geschichte. Diese Unspektakulärität nimmt der Film aber ernst. Er macht den Schritt den unspektakulären Modus des Familienfests konsequent als Form zu Ende zu denken. Ein wichtiges Moment im Film ist zum Beispiel das Warten. Wir warten auf den orthodoxen Priester, wir warten auf die Frau des Protagonisten und wir warten vor allen Dingen auf das Essen, auf den Leichenschmaus. Auch wird z.B die Ehefrau von Lary für ganze Stunden aus der Erzählung herausgenommen, aus dem einfachen Grund, dass sie einkaufen (!) gefahren ist. Puiu beweist, dass man Dynamiken des Alltags wie Abwesenheit und Leerlauf, die man normalerweise fern von narrativer Interessantheit wähnt, durchaus als erzählerische Modi anwenden kann, solang man sie nur ernst nimmt und in nötiger Konsequenz ausführt.
Rumänischer Realismus als scharfe Waffe
Puiu hat mit „Sieranevada“ einen beispiellos unvorhersehbaren Film geschaffen. Das realistische Nicht-Erzählen, das Aufzählen scheinbarer Nichtigkeiten, ist keineswegs eine Ziellosigkeit und Banalität, sondern eine scharfe Waffe. Das Publikum ist dem Geschehen völlig ausgeliefert, er hat keine dramatischen Anhaltspunkte, die ihn bestimmte Wendungen antizpieren ließe. Eine Waffe ist diese Strategie deswegen, weil sie den Zuschauer zu neuen Zugängen zum Erzählten zwingt. Statt einer emotionalen Lenkung wie in der „klassischen Dramaturgie“ spielt Puiu dem Zuschauer eine Autonomie zu, sich so oder anders zu den verschiedenen Ereignissen und Meinungen der Erzählung zu positionieren und sie auch emotional zu selektieren und gegeneinander zu gewichten. Es gibt keinen klassischen Klimax, keine Peripetie usw.. Jeder Zuschauer hat Entscheidungsgewalt darüber, welche Momente der Zwischenmenschlichkeit und Zwischenweltlichkeit er am emotional ergreifendsten findet, welche Konflikte er am interessantesten findet. Nun ist „Sieranevada“ aber nicht eine bloße platte Zertrümmerung herkömmlicher Erzählkonventionen. Das wäre zu leicht. Warum Puiu über drei Stunden trotz dem Widersetzen von narrativer Sicherheit funktioniert, ist der Beherrschung seiner radikal-rumänischen Form zu verdanken. Von der hyperrealistischen Schauspielführung bis zur beobachtenden Kamera, samt leicht ausgewaschener Farbkorrektur ist „Sieranevada“ ein erkennbarer und auch bekennender Teil der Romanian New Wave. In der reinen Beherrschung seines Stils ist Puius Film wohl aber der brillanteste Film seit „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ von Regie-Kollege Cristian Mungiu, den er im hiesigen Cannes-Jahrgang auch deutlich qualitativ in die Schranken verweisen konnte. Das in Wahrheit hochtechnische Genie, das hinter Kamera, Schauspiel, Schnitt und dramatischen Timing steckt, verfolgt den Zweck einen Alltagsrhythmus zu simulieren und damit „unsichtbar“ zu werden, die Aufmerksamkeit von dem Filmemachen auf die Handlung abzulenken. „Sieranevada“ ist kein Film auch nur kleinster Zäsuren, sondern der absoluten stilistischen Reinheit.
Wahrheiten und alternative Wahrheiten
Einerseits hat die Familie eine recht universelle und kontextlose Heterogenität. Andererseits sind die familiären Konflikte auch stark politisch-gesesellschaftsdiskursiv aufgeladen. Puiu zählt in seinem Film fleißig Streitpunkte der rumänischen Politik und Weltpolitik auf. Lässt Konflikte auflodern und wieder verebben. Auch wenn „Sieranevada“ in meinen Augen durchaus ein stimmiges Bild einer europäischen Gesellschaft zeichnet, ist das Politische als Spezifisches doch nur ein Verweis auf die Relativität und Perspektivität von Wahrheit, von der dieser Film wirklich handelt. Die uns so nahe Familie als eigene Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft ist bereits eine niemals vollständig auflösbare Verstrickung von Ereignissen, von denen nur ein Bruchteil selbst erlebt und selbst dann subjektiv verfärbt wahrgenommen werden kann. Wahrheit in dieser Form gibt es nicht. Vieles deutet „Sieranevada“ an, nichts macht er konkret. Am deutlichsten sehen wir das an den Anekdoten über die Untreue von Familienangehörigen. Der Film zeigt nie Taten (und damit Wahrheiten), sondern lediglich Dialoge über vermeintliche Taten und damit bruchhafte, verfälschte und verfremdete Splitter von Wahrheiten. Und damit wird der Film auf einem Umweg doch wieder politisch konkret: Man kann aus Puius Film ein Plädoyer herauslesen, vorsichtiger damit umzugehen, „Wahrheit“ und „Fakten“ als politische Kampfbegriffe zu verwenden. Eine in Zeiten von Informationskriegen, vermeintlichen Lügenpressen und Facebook-Gegenpropaganda wichtige Botschaft.
Puiu als Humanist
In feinen Symbolen arbeitet Puiu dezente politische Botschaften heraus, die sich aber nicht schwer als humanistische Positionierungen interpretieren lassen. Brillant hierfür ist die Gegenüberstellung des serbischen (bzw. kroatischen) betrunkenen Mädchens, das bei der Familie aufgenommen wird mit Toni, dem ehebrechenden Bruder des Protagonisten. Die Familie beschwert sich natürlich über das serbische Mädchen und die jüngste Tochter, die das Mädchen angeschleppt hat. Aber dass man ihr ein Dach über dem Kopf und Hilfe beim Ausnüchtern anbietet, ist doch ein gewisses Selbstverständnis. Die Serbin ist nicht nur eine Ausländerin, sie steht auch metaphorisch für das fremde Element der Migration. Puiu weist hier daraufhin, dass Migration immer Reibereien und Probleme erzeugt und auf den ersten Blick einen Nachteil für die aufnehmende Gesellschaft ist, aber ein sozial gleichwertiger Umgang mit dem Fremden ist doch schlichtweg eine Sache des Anstandes. Demgegenüber der Bruder Toni. Ein genuiner Teil der Familie vergleichbar mit einer ethnisch-historischen Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat. Toni ist aber in seinem Handeln wesentlich verwerflicher als das serbische Mädchen. Er ist gewalttätig und hat seine Frau mehrfach betrogen. Diese Zuwiderhandlung der sozialen Norm (in der Gesellschaftsallegorie vergleichbar mit einer kriminellen Handlung) wird von der Familie nun bestraft, ohne ihn aber endgültig aus der Gesellschaft auszuschließen. Toni bittet angesichts dem seiner Frau angerichteten Leid um Vergebung. Und die Familie gewehrt sie ihm. Auf einer allegorischen Ebene geht es hier um ein Justiz-Ideal. Das stetige Recht auf eine zweite Chance, wie es eine Todesstrafe bereits negiert. Das stetige Recht auf eine würdevolle Bestrafung.
Eine Lieblingsszene
Meine Lieblingsszene in diesem Film ist jene, in denen Lary mit seiner Frau im Auto sitzt. Der Motor läuft. Die Kamera ist auf dem Rücksitz und sieht von Lary und seiner Frau nur zur Windschutzscheibe zugewandte Körper. Auch hier zählt wieder nur der Dialog und nicht eine optimale Sichtbarkeit der Figuren. Es geht um den eigenen Vater, der ebenso untreu war wie Larys Bruder, aber dessen zahlreiche Ehebrüche nicht so prominent im Fokus stehen wie die des Sohnes Toni, dem schwarzen Schaf der Familie. Hier zeigt sich wieder, das manche Wahrheiten auch nie zu einer Wahrheit der Massen werden, weil sie schlichtweg nicht von der Masse als solche akzeptiert werden. Dass das tote Familienüberhaupt genauso ein schlechter Fremdgänger wie Toni war, wissen laut dieser Szene sehr viele Menschen in der Familie, selbst Larys Mutter, also die eigene Ehefrau des Verstorbenen. Trotzdem wird darüber geschwiegen. Aber ausnahmsweise nicht in diesem Auto.
Eigentlich möchte ich an dieser Stelle gar nicht so sehr darüber schreiben, was diese Szene vielleicht bedeuten könnte, sondern schlichtweg, dass ich gelacht, geweint und eine Gänsehaut hatte. Mein persönlicher Höhepunkt in einem Film, der uns die Wahl des eigenen Höhepunkts (und die Suche nach der eigenen Wahrheit!) überlässt, anstatt auf der Suche nach dem perfekt getimten Klimax zu sein.
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