Das vollprivatisierte Subjekt.
Originaltitel: Sorry, We Missed You
Produktionsland: Großbritannien
Veröffentlichungsjahr: 2019
Regie: Ken Loach
Drehbuch: Ken Loach
Bildgestaltung: Paul Laverty
Produktion: Rebecca O’Brien
Montage: Jonathan Morris
Darsteller: Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone, Katie Proctor, Charlie Richmond, Alfie Dobson
Laufzeit: 101 Minuten
Ricky Turner und seine Familie kämpfen gegen die Folgen der Finanzkrise des Jahres 2008. Die Familie hat Schulden, und als der Vater einen neuen Job als Paketbote bekommt, bietet sich ihnen endlich die Chance, die Misere zu beenden. Er will ein Franchise als selbstständiger Fahrer betreiben und hofft, hierdurch ein wenig von seiner Unabhängigkeit zurückzuerlangen. Doch die Bedingungen in der schönen neuen Arbeitswelt sind gnadenlos. Er muss sechs Tage die Woche und 14 Stunden pro Tag unterwegs sein. Für den neuen Van, den er für die Arbeit braucht, muss das Auto seiner Frau Abbie verkauft werden. Rickys neuer Job ist härter als gedacht, aber auch die Arbeit seiner Frau Abbie als Krankenschwester ist nicht einfach, sodass das Familienleben darunter leidet.
(…)
Quelle: de.wikipedia.org
Replik:
„Sorry, We Missed You“. Der Titel von Ken Loachs neuestem Film spielt auf die Zustellungskarten an, die Paketboten in den Briefkasten werfen, wenn sie den Empfänger nicht antreffen konnten. Ein häufiges Vorkommen unserer Zeit, das viel mit dem enormen Zeit- und Leistungsdruck in diesem Gewerbe zu tun hat. Ein Gewerbe, dessen Fußsoldaterie die großen Player wie Amazon wohl lieber heute als morgen durch noch günstigere Drohnen ersetzen würden. Noch stehen aber technologische und juristische Hürden im Weg, noch sind Versandriesen auf den Faktor Mensch angewiesen. Diesem Faktor Mensch spürt der mittlerweile 83-jährige Loach dort nach, wo er durch Selbstprivatisierung an den Rand seiner eigenen Existenzbedigungen gedrängt ist. Obwohl oder gerade weil „Sorry, We Missed You“ ein handwerklich nicht besonders erhabener Film ist, erweist er sich als der bessere, da pointiertere Film als sein Cannes-Gewinner „I, Daniel Blake„. Loach, seines Zeichens Arbeitskämpfer des Weltkinos, schafft einen Spagat zwischen leidenschaftlicher Brandrede und präzise, aufs Wesentliche verknappter Analyse neoliberaler Arbeitswelt.
I, Ricky Turner
„Sorry, We Missed You“ beginnt sehr ähnlich wie „I, Daniel Blake“. Da hörten wir von der gleichnamigen Hauptfigur von seiner Krankheit, während die Pre-Credits eingeblendet werden und wir die Hauptfigur schließlich zu sehen bekommen. „Sorry, We Missed You“ beginnt in einem Job-Interview bei einem plattformkapitalistischen Parcel-Service. Damit wird gleichermaßen die Welt und ihre Werte als auch der Protagonist eingeführt: Ricky, das ist ein stoischer und ein bisschen stolzer Arbeiter, dem kaum ein Job zu schade ist und es an Arbeitsmotivation nicht mangelt. Und die Welt, in der er lebt, will Ricky dazu ermutigen, flexibel zu arbeiten, einen eigenen Van zu kaufen, sich selbst zu versichern, das Risiko auf sich zu nehmen, sein „eigenes“ Franchise zu haben, bzw. „sein eigener Chef zu werden“. Chiffren des Plattformkapitalismus. Der Arbeiter privatisiert sich selbst. Der Arbeiter besitzt zwar prima facie mehr als nur seine Arbeitskraft, aber gleichzeitig umso weniger. Denn dieses „Mehr“ ist hauptsächlich ein Mehr an Risiko. Ein Euphemismus für ein „Weniger“. Ein konsequenter Abbau sozialer Errungenschaften der Arbeiterbewegung, wie er so typisch für den Neoliberalismus ist, der ja genau hier, in Großbritannien, durch Margaret Thatcher in die Welt gekommen ist.
Privatisierung des Privaten
„Sorry, We Missed You“ ist ein dramatisch-schnörkelloser Film. Pragmatisch wie seine Hauptfigur. Es geht Loach und seinem Drehbuchautor Paul Laverty nicht wirklich darum, in besonders eleganten Bögen die Neoliberalismuskritik einzuweben. Wir haben einen Arbeiter-Protagonist, dessen Frau Abby ebenfalls einen sehr prominenten Beruf des neoliberalen Prekariats ausübt, nämlich den der Pflege. Dazu zwei Kinder, die vor allem dramatisch dafür da sind, durch ihre Pubertät trouble zu erzeugen und damit den Druck auf die durch Arbeitsverhältnisse angespannte Familiensolidarität zu erhöhen. Am Anfang des Films ist Loachs Gestus noch sehr beobachtend und fast schon reportagenhaft in der Aufzählung und Kenntlichmachung kleiner Ungerechtigkeiten des Systems. Hier und da vielleicht sogar ein bisschen zu offensichtlich; etwa, wenn ein Gespräch mit einer zupflegenden Seniorin genutzt wird, um die backstory mitzuliefern (die Familie steht unter finanziellem Druck, weil sie in der Weltwirtschaftskrise 2008 ihr Haus verloren haben). Umso weiter die Geschichte fortschreitet, desto stärker verschränken sich die Konfliktpotenziale, desto mehr verschmilzt Arbeits- und Familienstress. Und das ist auch eine sehr richtige und wichtige Beobachtung, die Loach hier vollzieht, da das sich privatisierende Subjekt im Plattformkapitalismus natürlich tatsächlich Privates und Berufliches vermischen muss. Manchmal konkret dazu aufgefordert ist und manchmal – wie in diesem Fall – schlicht nicht anders kann, weil keine Zeit für die Familie mehr bleibt. Weit weg vom Manchester*-Kapitalismus sind wir vielerorts (oder richtiger: vielerarts) nicht entfernt.
*Ricky Turner selbst ist aus Manchstester, wo der Film aber gar nicht spielt. Dass das lediglich Loachs Absicht war, um ihn in einer (wunderbar auf der Seite der Leidenschaften kleiner Leute stehenden) Szene auf der Türschwelle eines Paketempfängers über das Manchesterderby streiten zu lassen, ist unwahrscheinlich. Denn Derbys gibt es in England in jeder Kleinstadt. Naheliegender ist tatsächlich, dass es sich hierbei um einen beabsichtigten Verweis auf Manchester als Symbol unmenschlicher Ausartung des Kapitalismus handelt.
Neoneorealistische Form, eine Solidaritätsbekundung
Und nun müssen wir auch über die Form reden! Selbst für das schnörkellose, null-ästhetizistische Kino Ken Loachs ist „Sorry, We Missed You“ noch ein geradezu hässlicher Film. Die Kameraarbeit sieht so aus, als hätte Loach alle Überlegungen zu Auflösung und Lichtsetzung höchst selbst schnell noch am Set übernommen. Und wir reden hier von einem Film, der mit Referenzmitteln einer Goldenen Palme entstanden ist! Alles also Absicht? Sehr gut möglich. Denn die Ästhetik des Einfachen, Bodenständigen und Profanen ist ja etwas, das sich durchaus solidarisch mit der porträtierten gesellschaftlichen Schicht zeigt. Dazu passt auch, dass Loach den Film ausschließlich mit Laien gedreht hat und auch hier ganz ähnliche Effekte erzielt. Die Figuren sprechen (einmal mehr) brutalsten Dialekt (und Soziolekt), wirken authentisch und aus dem Leben gegriffen und in Momenten großer Emotionalität dann aber teilweise ein bisschen klobig, jedoch dadurch irgendwie auch glaubwürdig. Vielleicht auf eine solche unbeholfene Weise glaubwürdig wie menschliche Emotion eben wirklich funktioniert, wenn sie sich von (noch so gut performten) Ideen des Berufsschauspiels verabschiedet. Das funktioniert also schon irgendwie gut. Auf eine ähnliche Weise wie die ersten neorealistischen Arbeiten in Italien funktioniert haben. Wobei hier eingelenkt werden muss, denn diese Filme waren gleichzeitig ästhetisch innovativ und keine (wenn auch absichtliche) ästhetische Regression. Es muss die Frage erlaubt sein: Wie hätte dieser Film als klaustrophobischer Sozialdrama-Thriller à la Dardennes funktioniert? Wäre das nicht die dringlichere In-Form-Setzung des Themas gewesen? Ein Leben unter Stress? Immer mal wieder fällt „Sorry, We Missed You“ ohnehin in einen ähnlichen Modus, um dann aber doch wieder unentschlossen zurück in die Statik zu fallen. Es bleibt eine schwer beantwortbare Frage, ob der Film auch dann im Wettbewerb von Cannes gelaufen wäre, wenn der Film nicht von Loach und seine Form somit weniger das naheliegende Moment von rebellischer Programmatik und Absicht in sich trüge. Dabei muss es doch mehr Filme wie „Sorry, We Missed You“ geben. Darum muss es im politischen Film doch (auch) gehen.
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