Das Outtake ist politisch: Klassenkampf und Narrative
Originaltitel: The Ordinaries
Produktionsland: Deutschland
Veröffentlichungsjahr: 2022
Regie: Sophie Linnenbaum
Drehbuch: Sophie Linnenbaum, Michael Fetter Nathansky
Bildgestaltung: Valentin Selmke
Produktion: Laura Klimpel, Britta Strampe
Montage: Kai Eiermann
Darsteller: Fine Sendel, Jule Böwe, Henning Peker, Sira Faal, Noah Tinwa ,Denise M’Baye, Pasquale Aleardi
Laufzeit: 120 Minuten
Der von Nordmedia geförderte Film wird als Science-Fiction-Satire eingeordnet. Er spielt in der Filmwelt. Diese ist aufgeteilt in Haupt- und Nebenrollen. Menschen mit Filmfehlern werden verfolgt und ausgegrenzt. Paula (Fine Sendel) ist 16 Jahre alt und bekommt die Chance, von einer einfachen Nebenfigur zu einer Hauptfigur befördert zu werden. Sie möchte ein Leben mit einer eigenen Story, mit aufregenden Szenen und voller Musik. Sie möchte kein Filmdasein wie ihre Mutter führen. Diese arbeitet als Nebenfigur im Hintergrund. Sie hat nur limitierte Dialoge ohne wirkliche Emotionen. Paula besucht daher die Schule für Hauptfiguren. Dort ist sie die Klassenbeste. In ihrer Abschlussprüfung muss sie beweisen, dass sie das Zeug zur Hauptfigur hat. Sie hat jedoch das Problem, dass sie es nicht schafft, eine eindringliche Filmmusik aus sich heraus zu erzeugen. Jedoch ohne diese Musik wird es nichts mit dem ersehnten Aufstieg zur Hauptfigur. Paula begibt sich auf die Suche nach einer Lösung. Das führt sie in die Abgründe der filmischen Welt hinein, zu den geächteten Filmfehlern, die keinen Platz in der Geschichte haben.
Quelle: de.wikipedia.org
Replik:
Die bisherige Rezeption von „The Ordinaries“ der Regisseurin Sophie Linnenbaum war alles in allem wohlwollend, aber auch sehr etikettenorientiert. Man hat zumeist darüber gesprochen und geschrieben, wie originell der Film sei, der eine Parallelwelt zeigt, in der Filmfiguren Filmfiguren sind und dass es ja intelligent sei, dass in diesem anspielungsreichem bunten Mikrokosmos auch noch Fragen gesellschaftskritischer Art eingebunden sind, denn in „The Ordinaries“ existieren verschiedene Kasten, die der Hauptfiguren, der Nebenfiguren und der Outtakes. Nun, ich will mich dieser allgemeinen Stoßrichtung gar nicht entgegenstellen, im Gegenteil: Ich will an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, wirklich detaillierter anzusehen, wie präzise und soziologisch vollwertig der Film seine Gesellschaftskritik anordnet und wie er das mit seinen filmischen Mitteln in Verbindung setzt. Oder anders gesagt: Wie unglaublich politisch „The Ordinaries“ wirklich ist.
Das Outtake ist politisch
Bevor wir ins Detail gehen, schauen wir uns mal die offensichtliche, oberster Ebene an, wie „The Ordinaries“ eine dystopische Gesellschaft metaphorisiert. Es gibt drei Kasten: Ganz oben stehen die Hauptfiguren, die in einem elitären Schulsystem ausgebildet werden, (überwiegend) in wohlhabenden Familien aufwachsen und deren Lebenshandlung im Grunde mit der „Gesamthandlung“ in eins fällt. Dann die Nebenfiguren, die in der Gesellschaft Anerkennung finden, aber eben ein unscheinbares, mittelmäßiges Leben führen. Und dann die Outtakes (im Film als schwarzweiß dargestellt), die in Ghettos ihr Dasein fristen, prekärer Arbeit nachgehen und zur „Gesamthandlung“ der Welt nichts mehr beitragen (dürfen). So plakativ prima facie eine Einteilung in „Kasten“ für eine demokratische Gesellschaft sein mag, so adäquat ist sie auf dem zweiten Blick. Zumal der Film als eine geniale Grundannahme mitbringt, dass es hier um „Handlung“ geht. Also einerseits um ein „Narrativ“ und andererseits um gesellschaftliche Teilhabe, eben Anteil am Fortlauf der Geschichte. Auf alle Gesellschaftssysteme, eben aber auch auf ein liberal-demokratisches System, lässt sich diese Metaphorisierung verlustfrei übertragen. Umso mächtiger eine gesellschaftliche Schicht ist, desto mehr trägt sie zu den Geschicken des Zeitverlaufs bei, desto mehr wird sie gesehen, desto wirkmächtiger ist sie. Die erste, einfache Metaphorik des Films ist deswegen so genial, weil sie als erster mir bekannter Film Macht mit Narrativität und symbolischer „Besetzung“ gleichsetzt.
Ganz besonders politisch wird es aber jetzt, wenn es um die Aussätzigen der Gesellschaft geht: Die Outtakes. Das „Outtake“ (im Deutschen nichtmal männlich oder weiblich) führt diese Koordination der Narrativität und gesellschaftlichen Symbolteilhabe nämlich noch weiter. Es ist ja ein offenes Geheimnis, dass Klassenunterschiede häufig nicht nur mit unterschiedlichen Habitus (dazu weiter unten mehr), sondern auch mit unterschiedlichen Narrativen korrelieren. Das Extrem hierfür mögen das Bedienen antidemokratischer, verschwörungstheoretischer etc. Narrative sein, aber es ist ja genauso ein Abwehrreflex herrschender Klassen, legitime Klasseninteressen der Beherrschten auch absichtloch verkürzt darzustellen, aus dem Kontext zu reißen und absichtlich misszuverstehen, um sie in die Nähe antidemokratischer, verschwörungstheoretischer etc. Narrative ansiedeln zu können. Um sie zu illlegitimieren. Um sie so eben für die eigenen Klasseninteressen der Mittel- und Oberschicht unschädlich zu machen. Zu canceln, könnte man auch sagen. Oder eben zu „Outtakes“ zu machen, zu den Narrativen, die im Herrschaftsdiskurs nicht (mehr) stattfinden dürfen. Das war natürlich in der Geschichte der Menschheit schon immer so, weswegen „The Ordinaries“ gleichzeitig als Folie auf die Bundesrepublik Deutschland 2023, wie auch hundert Jahre zuvor angelegt werden kann und als soziologischer Modellbaukasten funktioniert. Spannend ist aber, dass bestimmte Anspielungen tatsächlich nahelegen, dass „The Ordinaries“ ganz konkret, narrativ-ausgefochtene Klassenkämpfe der bundesrepublikanischen Gegenwart mitmeint. Allein die Tatsache, dass eine Figur durch „illlegitimes“ Verhalten quasi über Nacht zu einem Outtake werden kann, erinnert z.B. viel mehr an postmoderne Cancel-Culture als an Zeiten, in denen gesellschaftliche Schichtung mehr oder weniger qua Geburt vorbestimmt ist. Dann gibt es auch einige Details, die als Anspielungen auf sehr gegenwärtige Diskurse in Stellung gebracht werden können. Es gibt da z.B. ein Institut, wo Menschen „kulturell angepasst“ werden und Wörter aus ihrem Vokabular gestrichen werden. Wieder so eine Metapher, die gleichermaßen auf den Nationalsozialismus, aber auch auf identitätspolitische Kulturmuster der Gegenwart weisen kann. Oder es gibt da diese Bushaltestelle, die nur Kulisse ist, wo kein Bus fährt und damit unverkennbar auf zentrale Infrastrukturprobleme in strukturschwachen Gegenden (Deutschlands) verweist.
(Il)legitime Gefühle
Damit noch nicht genug! Ein weiterer genialer Zug des Drehbuchs von Sophie Linnenbaum und Michael Fetter Nathansky ist, dass er Klassenkampf nicht nur narrativ und symbolisch-teilhabend, sondern auch noch gefühlsbasiert denkt. Denn die Hauptfigur Paula Feinmann, die an der elitären Hauptfigurenschule lernt, eine Hauptfigur zu werden1, arbeitet hierfür mit einem Herzlesegerät, das die richtigen Emotionen benötigt und diese dann in gewisser Weise verstärken kann und die Welt (durch scorige Streichermusik) dann daran teilhaben lässt. Ist es nicht genau das? Dass Narrative und damit Herrschaftsdiskurse immer auch in Form von Emotionen vermittelt werden? Aber immer noch nicht genug! Nicht zufällig ist hier Angst eine stark illlegimierte Emotion, die vor allem der beherrschten Klasse der Outtakes zugeordnet wird. Um für die Abschlussprüfung zu lernen, gibt Paula vor, sich mit der unteren Klasse aus Recherchegründen auseinanderzusetzen, sucht aber eigentlich ihren Vater unter den Aussätzigen. Hier „vergiftet“ sie sich in gewisser Weise mit der Angst und den illegitimen, da herrschaftskritischen, Narrativen. Die Angst, die Sorge, das sind ja Emotionen, die man auch in Themen wie Migration, Corona oder ganz aktuell dem Ukrainekrieg häufig überwiegend jenen zuschreibt, die man gleichzeitig gerne als Schwurbler diskreditiert, obwohl damit eben, zumindest teilweise, auch glasklare Klasseninteressen überdeckt werden. Es würde wohl nicht wundern, wenn „The Ordinaries“ auch Applaus von der falschen Seite bekommen würde, aber dass das das Anliegen des Filmes gerade nicht unterminiert, sondern wesentlich bestätigt — nämlich, dass die Leugnung jeglicher Differenz(iertheit) bestimmter illegimer Sprechinhalte, Sprechpositionen etc. — ein knallhartes rhetorisches Machtmittel der herrschenden Politik ist.
Kommen wir noch einmal zum Filmischen zurück. „The Ordinaries“ ist alles in allem immer noch ein sehr deutscher und sehr verschulter Film, der ästhetisch keine Bäume ausreißt. Es ist also kein Wunder, dass der Film nicht per sofort als Autorenfilm gefeiert und auf einem relevanten Festival gezeigt wurde. ABER: Genau diese Ästhetik steht dem Film ja. Genau dieses Ästhetik bildet eine form-inhaltliche Allianz, sein Anliegen darzustellen. Es ist ja gerade eine künstliche Bühnenwelt mit Abziehbildern, die in wiedergekäuten Erzählmustern beheimatet sind und eine etabliert-kitschige Form des bürgerlich guten Lebens vor sich hin leben, wie in Platons Höhle. Selbst also noch die teils sehr formelartige Dramaturgie der Heldin, die ihre utopische Welt langsam als dystopisch begreift und sich mit den vermeintlich Bösen verbündet, hat man ja schon etliche Male gesehen. Aber in welchem Film würde die Wiederaufnahme dieses Musters besser passen, als in einem Film, der sich über genau die darin zugrunde liegende Machtdynamik lustig macht und sie soziologisch dabei einordnet.
Filmische Mittel, Produktionsmittel
Die Wahl der filmischen Mittel ist perfekt und setzt sich in kleinen Details in zahlreicher Form fort. Ist es nicht zum Beispiel eine wunderbare Metapher für den Habitus unterer Schichten, dass das Outtake-Love-Interest Simon, das Paula im Ghetto findet und sich in ihn verliebt, nur abgehackt spricht? Gleichermaßen könnte man darin auch eine Behinderung lesen. Es ist jedenfalls schön, dass man irgendwie trotzdem versteht, was Simon sagen will, obwohl er mitten im Satz abgeschnitten wird. Wer wissen will, was die kleinen Leute bewegt, der sollte sich ja für das interessieren, was sie meinen und nicht das, was sie durch drei ideologiekritische Sprachfilter hindurch Wort für Wort gesagt haben. Der Film fordert hier Mitmenschlichkeit ein. Ich möchte hier noch einmal mit Eva Illouz nachhaken, die zwischen Solidarität und ebenjener Mitmenschlichkeit differenziert. Solidarität wäre hier eher ein identitätspolitisches Konzept, das innerhalb einer kollektiven Identität verständlich und wichtig wäre, aber radikal unfähig ist, eine Gesellschaft und ihre Widersprüchlichkeit zusammenzuhalten. Und damit wohl auch keine klassenübergreifende Politik gestalten kann.2 Ist es nicht auch wunderbar, dass die Outtakes schwarz-weiß sind? Dass hier also eine Markierung von Sprechpositionen stattfindet und dass sie damit den Anklang von etwas „Überholtem“, wenn nicht „Reaktionärem“ haben, obwohl schwarzweiße Filmästhetik ja nichts per se Schlechtes ist, deren Abwertung also auch nicht objektivierbar, sondern durch die Brille eines Herrschaftsdiskurses erfolgt? Und man könnte diese Aufzählung noch um einige Punkte erweitern. Insbesondere weil „The Ordinaries“ eine sehr unterhaltsame und ein bisschen alberne Oberfläche hat, ist die effektive Präzision, mit der sich gesellschaftliche Beobachtungen in die Realwelt übertragen lassen, ziemlich beeindruckend.
Am Ende schafft es Paula eine grandiose Hauptdarstellerinnenprüfung abzulegen (Aufstieg in die herrschende Klasse), dann jedoch lässt sie die Masken fallen! Sie wischt sich das Make-Up aus dem Gesicht und auf einmal: Siehe da, ein Outtake! Dabei sind Outtakes dem essenzialistischen Selbstverständnis3 des Bourgeois nach doch gar nicht in der Lage dazu, legitime Kunst zu schaffen / legitime Gefühle zu haben! Die heuchlerische Praxis des Bürgertums, scheindemokratische Leistungsprüfungen als Zugangsschranken herzustellen, gleichzeitig der beherrschten Klasse dabei laufend Beine zu stellen und der eigenen Klasse, auch mit unlauteren Mitteln, die Hände zu reichen, wird hier sehr schön allegorisiert. Löblich auch, dass „The Ordinaries“ nie zu einer gewaltvollen Revolution ruft, um die Klassenverhältnisse zu stürzen, sondern letztlich an eine Veränderbarkeit der Gesellschat an sich, also in gewisser Weise einen demokratischen Sozialismus glaubt. Es ist denn nämlich am Ende die Kunst — stellvertretend auch für Sprache, Gefühle, Ausdrücksformen und Narrative — die so schön und für sich stehend gut sein kann, dass sie sich auch von der herrschenden Klasse nicht mehr ignorieren lässt, egal, welche „Farbe“ sie hat.4 Daraufhin bricht aber auch die bestehende Ordnung zusammen und alle Figuren existieren nebeneinanderher in einer Welt freier Zeichen.
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- Man könnte von einer Bildungsaufsteigerin im soziologischen Sinne sprechen. Oder als „Autodidaktin“ im Bourdieuschen Sinne [↩]
- https://www.zeit.de/kultur/2023-04/israel-rechtspopulisten-benjamin-netanjahu-eva-illouz-interview/komplettansicht
„Das wahrhaft revolutionäre Gefühl, mit dem Demokratie arbeiten sollte, ist Mitmenschlichkeit, nicht Solidarität. Denn Solidarität beruht zu sehr auf der Vorstellung einer Gesellschaft als Gemeinschaft – und wir sind keine Gemeinschaft mehr. Wir leben in großen Städten und sind sehr mobil. Wir suchen uns heute selbst die Gruppen und Gemeinschaften aus, zu denen wir dazu gehören wollen und können sie jederzeit wieder verlassen. Nationalistischer Populismus aber verkauft die Fantasie einer Rückkehr zu einer Gemeinschaft, zu Solidarität, zu einem Band der Liebe, das uns in einem Land verbindet. Aber ich glaube weder, dass wir zu einer Gemeinschaft zurückkehren können, noch dass wir das sollten. Die globalisierte Gesellschaft ist zu fragmentiert. Wonach wir streben können, ist eine etwas anderes Gefühl, das von Mitmenschlichkeit.“ [↩] - „Der ‚Bildungsaristokrat‘ ist Essentialist.: die Existenz vermag er lediglich als Emanation der Essenz zu begreifen.“ „Die feinen Unterschiede“ (Piere Bourdieu, 1979) [↩]
- Wir denken hierbei auch bitte an die Geschichte des Rock’n’Roll in Amerika, in der sich die Leistungen afroamerikanischer Musikerinnnen und Musiker irgendwann einfach nicht mehr leugnen ließ. [↩]
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