Das sexuelle Paradies Familie.
Originaltitel: The War Zone
Produktionsland: Großbritannien / Italien
Veröffentlichungsjahr: 1999
Regie: Tim Roth
Drehbuch: Alexander Stuart
Produktion: Dixie Linder, Sarah Radclyffe
Kamera: Seamus McGarvey
Montage: Trevor Waite
Musik: Simon Boswell
Darsteller: Ray Winstone, Lara Belmont, Freddie Cunliffe, Tilda Swinton, Colin Farrell, Aisling O’Sullivan, Kate Ashfield
Laufzeit: 99 Minuten
Toms Familie ist aufs Land gezogen. Die Mutter erwartet ihr drittes Kind und das Haus bietet mehr Platz. Tom ist die Einöde zuwider. Als er eines Tages ums Haus schleicht, sieht er seine Schwester Jessie und seinen Vater nackt im Badezimmer. Er konfrontiert Jessie mit seiner Entdeckung, aber Jessie tut sie als Gehirngespinst ab.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 11.07.2013)
Das Erschreckendste an dem Film ist eigentlich der allerletzte Frame des Films: „For my father“ steht da; Tim Roth dreht in seiner einzigen Regiearbeit einen Film über sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie und widmet ihn seinem eigenen Vater. Warum das so verhältnismäßig wenig Verwunderung in der Filmwelt ausgelöst hat, erschließt sich mir nicht ganz. Vielleicht, weil die Zuschauer den Abspann gar nicht mehr sahen, nachdem sie aufgrund des schwer erträglichen Insznerierungstils des Films aus dem Kino türmten? „The War Zone“ ist ein erbarmungloses Monstrum, ein zu jedem Zeitpunkt mit voller Ernsthaftigkeit selbst erklärter Kriegszustand von einem Film.
Ein Gegenspieler im Paradies
Obwohl Roth den Film seinem eigenen Vater widmet, kommt der Film recht unpersönlich daher und versperrt sich einer autobiografischen Note so weit es geht. Selbst für die Adaption eines Romans haben die Figuren bestenfalls ein Mindestmaß an Profil, was Stärke und Schwäche des Films zu gleich ist. Einerseits lässt der Protagonist Tom kaum Identifikationsfläche zu und die Beziehung der beiden Geschwister kann die Zuschauersympathien kaum gewinnen, andererseits lenkt der Film somit den Blick auf den behandelten Konflikt. Alle Figuren im Film handeln nachvollziehbar, von sexuellem Impetus gelenkt.
Toms Vater ist ein kranker Mann und glücklicherweise auch als solcher dargestellt. Er ist kein gewissenloses Monster, sondern jemand, der versucht sein eigenens Handeln zu verdrängen und seine eigene Krankheit anderen einzureden. Dabei erkennt man in seinem Handeln sogar eine verquere Form von familiärer Liebe. Tom ist für ihn im Grunde ein unliebsamer Gegenspieler im sexuellen Paradies Familie. Tom wird durch die Konfrontation mit der inzestuösen Situation zu einem Verfechter eines neues Werteverständnisses gegenüber dem des Vaters und durchläuft dadurch einen Coming-of-Age-Parkour. Er wird dadurch selbst zum starken Mann der Familie.
Radikal pessimistisch
Das „englische Wetter“ mit dunklen Regenwolken, wenig Sonne und unbamherzigen, kalten Wellen, die an die steinigen Strandklippen klatschen, sind hier ein probates Mittel, um dem Film eine Grundstimmung zu verleihen, die nie einen Hehl daraus macht, dass sich hier nichts wirklich zum Guten wenden wird. Krieg hat keine Gewinner, nur Verlierer. Dass „The War Zone“ aber nicht einmal an ein gutes Ende einer Kriegssituation denken kann, ist eine große Schwäche des Films. So ist Vinterbergs Meisterwerk „Das Fest“ die reifere Stimme zum Thema (und das ganz ohne Romanvorlage), da dort kein so brutales Ende als logische Konsequenz angeboten wird. Roths Intention ist ja durchaus legitim, aber unnötig pessimistisch und im Finale der Erzählung auch einfach etwas zu sehr aufgesetzt.
Eine Missbrauchs-Chronik im Subtext
Was „The War Zone“ aber stark macht, sind die dezenten Andeutungen, die den Film tragen und bis zum — wie besprochen — etwas ausufernden Finale hervorragend funktionieren. Zwischen den Szenen wird hier äußerst geschickt eine ganze Missbrauchs-Chronik aufgebaut, die sich im Kopf des Publikums abspielt, obwohl der eigentliche Missbrauch nur ein einziges Mal wirklich gezeigt wird (Dann aber auch in aller spürbaren Härte).
Tim Roths erster und einziger Film ist eine alles in allem gelungene, da immer nachvollziehbare Familientragödie mit marginalen Schwächen, die den Gesamteindrück kaum zu trüben vermögen.
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