Ein wohl-kalkulierter Jurorenstimmenfischer.
Originaltitel: U-Carmen eKhayelitsha
Produktionsland: Südafrika
Veröffentlichungsjahr: 2004
Regie: Mark Dornford-May
Drehbuch: Mark Dornford-May, Pauline Malefane, Andiswa Kedama
Produktion: Ross Garland
Kamera: Giulio Biccari
Montage: Ronelle Loots
Musik: Georges Bizet
Darsteller: Pauline Malefane, Andile Tshoni, Lungelwa Blou, Andiswa Kedama, Zweilungile Sidloy
Laufzeit: 120 Minuten
Bizets Oper „Carmen“ ist seit ihrer Uraufführung 1875 eine der bekanntesten Opern der Musikgeschichte. Für den Film wurde die Handlung nach Khayelitsha bei Kapstadt in Südafrika verlegt. Die selbstbewusste und hitzige Carmen (Pauline Malefane) arbeitet in einer Zigarettenfabrik. Während ihrer Mittagspause kokettiert sie mit einigen Polizisten, die auf ihrer Kontrollfahrt einen Stopp bei den hübschen Fabrikarbeiterinnen einlegen. Carmen hat es auf Jongikhya (Andile Tshoni) abgesehen, da er sie am meisten ignoriert, und wirft ihm eine Rose ins Auto. Als Carmen bei einem Streit zwischen den Arbeiterinnen ein Mädchen mit dem Messer verletzt, soll ausgerechnet Jongikhya sie in seinem Auto auf die Wache bringen. Doch mit einem tollkühnen Liebesversprechen bringt Carmen ihn dazu, ihre Handschellen zu lösen…
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 28.10.2011)
Es war eine der überraschendsten und am ärgwöhnisch betrachteten Verleihungen des Goldenen Bären überhaupt: Der englische Opern- und Theaterregisseur Mark Donford-May gewann die 55. Berlinale, indem er die Handlung der „Carmen“ in die südafrikanische Hauptstadt verlegte und auf Xhosa drehen ließ. Das Berlinale-Jury-Faible für Weltkino dürfte bekannt sein und erhielt in den darauffolgenden Jahren noch weitere streitbare Entscheidungen wie „Esmas Geheimnis“ oder „Tuyas Hochzeit“, kaum einer ließ Publikum und Presse aber auch im Nachhinein so kalt wie dieser südafrikanische Film. In der Presse kurzatmig und weitestgehend einstimmig als Fehlentscheidung abgetan, ist der Film auch im einfachen Publikum den wenigsten knapp zehn Jahre nach Auszeichnung ein Begriff.
Keine _filmische_ Sensation
Eigentlich ist „U-Carmen“ auch nicht mehr als ein wohl-kalkulierter Jurorenstimmenfischer. Es ist einfach charmant, wie hier eine große europäische Oper in die südafrikanischen Slums verlegt und übersetzt wird. Der Gesang ist komplett auf Xhosa geschrieben und eingesungen, das Schönheitsideal der Europäer auf eine kräftige afrikanische Diva übertragen, die mehr Rundungen mitbringt als man das im Kulturkreis des Georges Bizets für attraktiv gehalten hätte. Diese Entfremdung ist ein gewollter Underdog-Effekt, eine selbstbewusste Markierung, dass auch im so belächelten schwarzafrikanischen Kulturkreis Hochkultur entstehen oder zumindest neuinterpretiert werden kann.
Und das ist auch der Haken an „U-Carmen“. Denn mit dem Hintergrundwissen, dass der Regisseur ein erfahrener britischer Opernregisseur ist, stellt „U-Carmen“ auch nicht viel mehr als eine äußerst routinierte Neuinterpretation eines Klassikers dar und wäre im Opernbereich vielleicht eine größere Sensation, da filmische Mittel wiederum kaum ausgereizt werden. Die Vermutung liegt nahe, dass „U-Carmen“ den Goldenen Bären erlangte, weil er zwar wenig große Bewunderer hatte, aber von allen grundsätzlich geschätzt wurde und daher am Ende den Konsens bildete. Aber das ist Spekulation.
Bizet auf Xhosa
Dornford-May belässt es letztlich dabei, die Story eins-zu-eins auf Südafrika zu übersetzen, was Carmen-Kenner sicher zum Schmunzeln bringen wird, wie er etwa die Schmuggler zu Slum-Drogendealer macht und sogar das Stier-Motiv in den Film rettet, aber durch die strenge Transkription vom französischen Original, verpasst es der Regisseur auch eigene Botschaften, seien sie politischer oder anderer Natur, auf dem Vehikel der Carmen-Oper einzubauen und versagt seinem Film damit eine gewisse Notwendigkeit. Die große Stärke des Films bleibt das Libretto, das problemlos trotz komplett unverwandter Sprache zum Original, ein eigenes Metrum inklusive Reime gefunden hat. Die professionellen, südafrikanischen Opernsänger, die für den Film gewonnen wurden, müssen sich vor europäischen Opernstars, soweit man das als Oper-Laie beurteilen kann, nicht verstecken und es ist ein hörenswertes Erlebnis, die für die Klick-Geräusche bekannte Sprache Xhosa innerhalb einer Arie zu hören.
Showevent-Charakter
Wie lobenswert das Unterfangen auch sein mag, so sehr bleibt jedoch auch der Beigeschmack eines Show-Events, das zu sehr in seine eigene Übersetzungsarbeit verliebt ist. Die filmischen Mittel tun dazu ihr Übriges, sie erreichen nie die Professionalität der Musik und lassen den Zuschauer nie in den Film hinein tauchen. Dieser bleibt an der Oberfläche und sieht singende, südafrikanische Opernsänger aber kein Don José und keine Carmen, wie man sie gerne sehen und spüren würde. Wenn es sich auch in Bildern gesprochen dramatisch zuspitzt, findet Dornford-May Bilder, die eines Berlinale-Siegers nicht würdig sind.
„U-Carmen“ ist kein Versuch afrikanische Kultur zu zeigen, sondern andersrum europäische in ein afrikanisches Terrain zu verfrachten. Das funktioniert nie so richtig, bleibt aber trotzdem sehenswert (nein, eigentlich hörenswert) genug, um für diesen Film eine vage Empfehlung auszusprechen.
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