Horizontale und vertikale Dramaturgiebrüche
Originaltitel: Carla’s Song
Produktionsland: Großbritannien
Veröffentlichungsjahr: 1996
Regie: Ken Loach
Drehbuch: Paul Laverty
Bildgestaltung: Barry Ackroyd
Produktion: Sally Hibbin
Montage: Jonathan Morris
Darsteller: Robert Carlyle, Oyanka Cabezas, Scott Glenn, Salvador Espinoza, Louise Goodall, Richard Loza
Laufzeit: 125 Minuten
Carla’s Song erzählt die Geschichte des post-revolutionären sandinistischen Nicaragua. Ken Loach inszeniert die Geschichte einer jungen Musikerin, die aus Nicaragua nach Großbritannien floh, nachdem sie Opfer eines Überfalls von Contras geworden war. Einem Busfahrer aus Glasgow, der sich in die junge Migrantin verliebt, wird die Zeit nach der sandinistischen Revolution erzählt. Die psychischen Probleme Carlas, hervorgerufen durch die Massaker in ihrer Heimat, veranlassen ihn, mit ihr nach Nicaragua zu reisen. Dort begegnet er dem Enthusiasmus der Bevölkerung, andererseits aber auch der politischen Instabilität wegen der Angriffe der Contras auf die Zivilbevölkerung. Dabei erfährt der Busfahrer auch die Geschichte Carlas, die Opfer eines Contra-Überfalls wurde, als sie mit ihrem Freund auf einer Musiktournee unterwegs war. Dieser wurde bei dem Überfall verstümmelt. Am Ende des Films entscheidet sie sich, in Nicaragua zu bleiben, um sich um ihren früheren Freund zu kümmern. Der Busfahrer kehrt nach Schottland zurück.
Quelle: de.wikipedia.org
Replik:
Ich würde diese Replik mit einer Lüge beginnen, wenn ich schreibte, dass ich Ken Loachs Werk bereits gut kenne. Aber es scheint mir bislang, als sei es ausdrücklich nicht die Kategorisierbarkeit in „technisches Talent“, was das Besondere und Relevante an diesem Filmemacher ist. Vielleicht verbindet ihn das mit anderen „Großen“ eines ungeschliffenen Filmemachens (wie Wim Wenders, Werner Herzog) des Wollens und der ungezwungenen Lust an der politischen Agitation, ohne großes Nachdenken über die Äquivation in filmischer Sprache. Vielleicht kann man auch weniger affirmativ sagen, dass Loach als (weißer, alter, männlicher) Regisseur, der bestens im Filmkanon etabliert ist, sich den Rechtfertigungsnöten auf ästhetischer Ebene ein Stück weit entzieht und aus einer Filmemachergeneration der neuen Wellen kommt, in der das Einfache und Schmissige zum guten Ton gehörte, welches man heutzutage wiederum ästhetisch überhöht, ob ihrer selbstbehaupteten politischen Ausdruckskraft. „Carla’s Song“ jedenfalls war eine zwiespältige Erfahrung, über die ich mich kurz auslassen möchte.
Besetzungshumanismus
Im selben Jahr wie „Carla’s Song“ erscheint auch „Trainspotting“, in dem der schottische Hauptdarsteller Robert Carlyle einen überzeichnet-widerlichen Machoschläger namens Begbie spielt. In „Carla’s Song“ spielt er prima facie den Gegenentwurf hierzu als den Busfahrer George mit dem Herz am rechten Fleck, der sich unversehens in die nicaraguanische Tänzerin Carla verliebt. Der erste Moment des Unbehagens bei „Carla’s Song“ besteht für mich darin, dass Robert Carlyle immer noch eine sehr uncharismatische Ausstrahlung hat und sich über große Strecken sogar in dieser Loachschen Rolle ähnlich übergriffig und unsympathisch verhält wie ihn „Trainspotting“. Teilweise fühlt es sich so an, als würde tatsächlich Danny Boyles Begbie hier einer Lateinamerikanerin hinterherstellen und wir sind zwecks geradliniger Lovestory-Plotline, (samt merkwürdig TV-filmhafter Musikeinspielung), zum Komplizentum verdammt. So, wie ich Loach verstehe, (oder verstehen will), ist das aber ein gewollter Zug, sich eben einer Figur zu nähern, die keine angeborene Hugh-Grant-Aura hat, sondern grautönig und unattraktiv daherkommt, ohne es notwendigerweise sein zu müssen. Ein Loachscher Humanismus, der sich in vielen seiner Filme mit ungeschliffenen Arbeitergesichter fortsetzt.
Horizontaler Konventionsbruch als gebrochener White Savior
Loachs Filme sind häufig durchzogen von Erzählmustern, die geradezu sklavisch klassischer Hollywooddramaturgie folgen (insbesondere was Plotpoints, Akt-Proportionen usw. angeht) — und dann gibt es immer wieder eigenartige Brüche. „Carla’s Song“ bricht die klassische RomCom auf, die hier unter der Motorhaube der erzählerischen Maschine schlummert; und das sowohl horizontal als auch vertikal: Horizontal, weil der Film in zwei Hälften geteilt ist. Ein Kennenlernen in Glasgow, wo sich der Busfahrer George darüber hinwegsetzt, wie Carla seine Avancen abwehrt, weil er dahinter (wie sich herausstellt zurecht!) eine seelische Wunde (backstory wound) erkennt, die er mit seiner Zuneigung kurieren will. Das ist das klassische Bild eines white saviours, also eines weißen (männlichen) Retters, der mit edler Motivik auszieht und (über Grenzen des Anderen hinweg) seine Heilung vollzieht, die zumeist — wie auch hier — an einen Loveplot gekoppelt ist. Aber Stopp! Loach führt eine Zäsur in diesen Plot ein, indem er beide Figuren zusammen ins bürgerkriegsgebeutelte Nicaragua fliegen lässt. Hier dreht sich die Konzeption um. George ist auf einmal das Fremde, das Unwissende und auch in seiner White-Saviour-Rolle zumindest immer mal wieder relativiert. Gerade innerhalb des zweiten „Teils“, in Lateinamerika, bekommt „Carla’s Song“ auch einen Schauwert, dem man sich schwerlich entziehen kann. Die semidokumentarischen Einstellungen, wenn Robert Carlyle auf die Einheimischen trifft, mit ihnen flirtet, tanzt, T-Shirts tauscht und mit seiner Freundin als Dolmetscherin transkulturell kommuniziert, sind auch gerade deswegen so atmosphärisch, da sie bei aller dokumentarischen Echtheit immer noch Reenactments1 eines zehn Jahre zurückliegenden Bürgerkriegs sind und das Ausbrechen spontaner, undurchsichtiger Gewalt immer als Damoklesschwert präsent ist.
Vertikaler Konventionsbruch als konfuses Erzählprinzip
Darüberhinaus ist die Eindeutigkeit von „Carla’s Song“ durch eine Vielzahl undurchschaubarer Nebenhandlungen noch vertikal durchbrochen. Während die horizontale Zweiteilung der Handlung noch ein genialer Schachzug sein mag, erscheinen mir die vertikalen Brüche aber als erzählerisches Unvermögen: Beide Figuren haben noch andere Partner über die wir fast nichts erfahren und für die sich der Film auch emotional überhaupt nicht interessiert. Bei Georges Freundin, die er nonchalant innerhalb zwei (!) kurzer Szenen abserviert, mag das noch verschmerzbar sein. Aber wie Carlas Freund, für den die beiden nach Nicaragua fliegen, dessen womöglicher Tod Carla posttraumatisch belastet (ein weiterer kaum ausgearbeiteter Subplot) und mit dem Carla sogar ein Baby hat, am Ende einmal kurz vor den Credits auftaucht und in einer völlig pointenlosen Totalen mit ihr den titelgebenden Song spielen darf, ist völlig konfuses, haltloses Erzählen. Überhaupt fällt Loach mit der Ankunft in Nicaragua auf einmal wieder ein, dass er ja ein politischer Filmemacher ist, weswegen er den Ex-CIA-Agenten Bradley auftreten lässt, der in einem weiteren tiefenlosen Subplot einmal für den Zuschauer das Elend des Bürgerkriegs politisch einordnen und sich solidarisch mit den Sandinisten zeigen darf. Der Film endet dann mit einer Männerfreundschaft zwischen den beiden weißen Männern, während das posttraumatische Schicksal von Carla und dem Land, aus dem sie kommt, gar nicht einmal mehr so interessant ist, schließlich hat man sich ja politisch klar genug ausgedrückt. Obwohl Loach also seine eigene White-Saviour-Figur immer wieder spannenden Brüchen aussetzt, erfüllt sein Film letztlich doch mehr dieser kolonialistischen Logik als es ihm lieb sein dürfte.
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- Diese Atmosphäre findet sich vergleichbar und noch stärker in Fellipe Barbosas Meisterwerk „Gabriel And The Mountain“, der im Gegensatz zu „Carla’s Song“ nicht immer wieder durch schauspielerisch schwächere Momente aus dieser semitouristischen Wahrnehmung unfreiwilligerweise rausreißt. [↩]