Ein Autounfall von einem Film.
Originaltitel: Titane
Produktionsland: Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 2021
Regie: Julia Ducournau
Drehbuch: Julia Ducournau
Bildgestaltung: Ruben Impens
Produktion: Jean-Christophe Reymond
Montage: Jean-Christophe Bouzy
Darsteller: Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Laïs Salameh,
Garance Marillier, Dominique Frot, Myriem Akheddiou, Mehdi Rahim-Silvioli, Nathalie Boyer
Laufzeit: 108 Minuten
Als kleines Mädchen erhält Alexia nach einem von ihr mitverschuldeten Autounfall eine Titanplatte von ihrem Vater in den Schädel implantiert. Die Narben über dem rechten Ohr lassen sich zwar durch ihr nachwachsendes Haar kaschieren, doch schon bald entwickelt sie eine körperliche Zuneigung zu Fahrzeugen. Bereits als sie aus dem Krankenhaus entlassen wird, würdigt sie ihre Eltern keines Blickes. Stattdessen läuft sie auf den Unfallwagen zu, umarmt und liebkost diesen. Jahrzehnte später im Erwachsenenalter arbeitet Alexia als erotische Tänzerin bei einer Auto-Show. Sie tötet Menschen brutal, die ihr im Wege sind oder ihr zu nahe kommen. Auch hat sie Bondage-Sex mit einem Ausstellungsboliden, von dem sie blitzartig schwanger wird. Dabei schwillt ihr Bauch schmerzhaft an und es tritt Motoröl aus ihren Brüsten. Als sie vor der Polizei flüchten muss, nimmt Alexia eine neue Identität als vermisster Sohn des Feuerwehrkommandanten Vincent an. Dessen Kind Adrien war vor zehn Jahren spurlos verschwunden. Zur Tarnung verändert Alexia ihr Aussehen drastisch – sie bindet sich Bauch und Brüste ab, bricht sich die Nase und schneidet sich die Haare kurz. Vincent, der seinen muskulösen Körper regelmäßig mit Hormonspritzen versorgt, akzeptiert sie als seinen verlorenen Sohn, ohne Fragen zu stellen. Schon bald entwickelt er väterliche Gefühle. Alexia muss sich daraufhin in ihrer neuen Rolle bei der virilen Feuerwehrtruppe beweisen, der Vincent jegliche Diskussion über seinen wiedergefundenen Sohn untersagt.
Quelle: de.wikipedia.org
Replik:
Die Auszeichnung von Julia Ducournaus „Titane“ mit der Goldenen Palme bei den Filmfestspielen in Cannes ist nicht nur die erste Goldene Palme für eine Frau allein an der konservativen Croisette, sondern auch in vielerlei anderer Hinsicht eine bemerkenswerte Entscheidung. Obwohl mir der Film nicht gefallen hat, begrüße ich damit einhergehende Tendenzen, Genre-Filme als Autorenkino und intellektuelles Beitragsmedium sichtbar zu machen. In „Titane“ fühlt sich eine junge Frau von Autos erotisch angezogen und vollzieht nebenbei eine Transformation von einer virilen Frau zu einem schüchternen Mann – als ein Körper, der immer in Bewegung bleibt, Körper und Geschlechter dekonstruiert. Dabei bleibt „Titane“ aber vage und mitunter bis ins Unleserliche unpräzise. Ein Film, den es mehr um die Dekonstruktionsbewegung an sich zu gehen scheint, als was damit anzufangen ist. Ducournaus Zweitling ist ein Autounfall von einem Film. Voll mit brachialem Scheitern, wegsehen kann man trotzdem nicht und die Frage nach dem Sinn des Ganzen wird zur Schicksalsfrage.
Handlungshokuspokus
Ducournaus Film hat zwei Hälften: nach einem kurzen Intro, in dem wir erfahren, dass die Protagonistin Alexia als Kind bei einem Autounfall eine Titanplatte in den Kopf implantiert bekommen hat, sehen wir sie als stadtbekannte Erotiktänzerin, die damit Autoshows bewirbt. Von aufdringlichen Männern und Frauen belästigt, wird sie zu einer Serienmörderin, die aber selbst noch ihren eigenen Morden halbwegs indifferent gegenüber zu sein scheint. Das einzige, was sie wirklich anzieht, ist Sex mit Autos. Von einem solchen wird sie auch schließlich schwanger und blutet fortan Motoröl.
In der zweiten Hälfte taucht Alexia unter, indem sie ihr Gesicht und ihren Körper dermaßen demoliert, dass sie offensichtlich von der Gesellschaft als Mann wahrgenommen wird. So sehr sogar, dass Co-Protagonist Vincent (Vincent Lindon) sie für seinen Sohn Adrien hält, der als Kind verschwunden ist.1 Vincent, ein stereoid-pumpender Feuerwehrmann, baut zu Alexia ein amouröses, semi-sexuelles Vater-Sohn-Verhältnis auf, bei dem es in letzter Instanz um reine zwischenmenschliche Zuneigung zu gehen scheint, da dieses Verhältnis selbst dann nicht erschüttert wird, als sich sein Sohn Adrien als serienmordende, von einem Auto schwangere Frau herausstellt.
Wenn man den Film nicht gesehen hat, könnte die Handlung merkwürdig erscheinen. Aber wenn man ihn gesehen hat, kommt sie einem eigentlich nicht einmal weniger merkwürdig vor. Und hier kommen wir zur entscheidenden Frage von „Titane“.
Titane als Zukunftsvision fürs Kino?
Man kann den Film im Grunde auf zwei verschiedene Weisen sehen, beide sind nicht besonders befriedigend. Erstens: man betrachtet den Film in seinem Skulpturcharakter, dessen fehlende Zugeständnisse zu Kohärenz, Psychologie, metaphorischer Stichhaltigkeit usw. im Grunde egal sind, weil es dem Film nur darum geht, eine einzige große Geste der Dekonstruktion zu sein. Ein Gefühl und Bilder im Kopf, die bleiben, von Körpern, die sich Geschlechts- und Machtverhältnisse entziehen usw. Man könnte in dieser Hinsicht „Titane“ mit Werken Godards der 70er- und 80er-Jahre vergleichen. Als ein Versuch, gesetzte bürgerliche Erzähl- und Bildkonventionen umzugraben und dabei nicht zwangsläufig eine kohärente Geschichte erzählen zu wollen, indes Lächerlichkeit einzelner Szenen standhalten zu können. Das wäre eine sehr wohlwollende Rezeption von „Titane“, die sich erst im Laufe der Filmgeschichte wirklich validieren oder falsifizieren ließen, inwiefern dieser Film möglicherweise der Startschuss für ein feministisches, post-bürgerliches Körperkino wäre, oder wenigstens für ein solches in der Filmografie von Julia Ducournau.2 Dann wäre „Titane“ als Skulptur womöglich ein stilbildender Pionier für ein Kino, dessen Möglichkeiten die von „Titane“ selbst noch weit übersteigt. Denn, wer weiß, vielleicht können andere Filme dann sogar gleichzeitig Dekonstrux-Skulptur sein als auch (und damit!) eine Geschichte zu erzählen.
Transhumanität und Transhumanismus
Jede andere Weise, den Film zu sehen, läuft darauf hinaus, dessen motivischen und metaphorischen Charakter ernstzunehmen, eben weil jede Einzelszene maximal symbolisch aufgeladen ist und gleichzeitig die narrative Oberfläche nie realistisch genug bleibt, als dass sie eine Doppelbödigkeit böte, auf dessen Realismus man sich zur Not zurückziehen könnte. Einerseits sind die Metaphern an sich recht plump und anderseits ihre Verkettung intellektuell unredlich. „Titane“ wirkt wie eine lose Kompilation von provokativen Einzelmomenten, die nie zu etwas höherem Ganzen führen. Irgendwas mit Körper halt. Eine Schluss-Pointe hat der Film dann aber doch noch, die aber umso nachdrücklicher das Problem von „Titane“ vor Augen führt. Schlussendlich gebährt Alexia nämlich ein Kind mit titanernem Rückgrad, einen Bastard aus ihren Genen und denen des Autos. Hier wird die Geburt eines „neuen Menschen“ gefeiert. Man muss diese Szene einerseits zwangsläufig als transhumanistisch lesen, als optimistische Vermählung des Menschen mit der Technologie. Andererseits geht es hier — nimmt man noch die Verlustgeschichte des Vaters Vincent hinzu — ganz klar nicht nur um neue Mensch-heit, sondern um eine Proklamation einer neuen Menschlichkeit. Es geht um die Utopie von Zusammenhalt in und mit neuen, fluiden Körpern. Wo aber spüren wir Menschlichkeit in diesem Film? Die Figuren sind durchweg mit „unsympathisch“ noch recht schmeichelnd umschrieben. Sie haben keine Ziele, keine Ideale und noch nicht einmal sexuelle Sehnsüchte, die außerhalb der reinen Metapher spürbar wären.3 Sie sind leere, ja, Körper. Das hingegen hätte es bei Godard nicht gegeben.
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- angemerkt sei hier das Detail, dass Alexia unmittelbar davor eine Nebenfigur ermordet hat, die dem verlorenen Sohn Adrien tatsächlich ähnlich sieht, während ihre eigene Ähnlichkeit zu dem viel dunkel-häutigeren Adrien geringer kaum ausfallen könnte. Ob diese Irritation so beabsichtigt ist, kann nur Spekulation bleiben [↩]
- Hannah Pilarczyk hat auf Spiegel Online von der Erfindung des Gender-Cores geschrieben [↩]
- Eine Thematisierung von Objektophilie, die ja eigentlich faktisch bei Alexia vorliegt, würde wohl kaum eine Rezipientin kommen, so klar symbolisch verweist der Sex mit dem Auto auf etwas anderes [↩]
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