Sozialistischer Realismus oder: Undercover in der Arbeiterschicht.
Originaltitel: Ouistreham
Alternativtitel: Wie im echten Leben
Produktionsland: Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 2021
Regie: Emmanuel Carrère
Drehbuch: Emmanuel Carrère,
Hélène Devynck (nach einem Roman von Florence Aubenas)
Produktion: Olivier Delbosc, David Gauquié, Julien Deris
Montage: Albertine Lastera
Darsteller: Juliette Binoche, Hélène Lambert, Louise Pociecka, Steve Papagiannis, Aude Ruyter, Jérémy Lechevallier, Léa Carne, Louis-Do de Lencquesaing u.A.
Laufzeit: 106 Minuten
Marianne Winckler, eine anerkannte Schriftstellerin, beginnt ein Buch über prekäre Arbeit. Sie lässt sich in der Nähe von Caen nieder und schließt sich, ohne ihre Identität preiszugeben, einem Team von Putzfrauen an. Sie erlebt die wirtschaftliche Verwundbarkeit und soziale Unsichtbarkeit der Frauen, entdeckt aber auch die gegenseitige Hilfe und Solidarität, die diese Arbeiterinnen im Schatten vereint.
Quelle: de.wikipedia.org
Replik:
Gibt es noch so etwas wie sozialistisches Kino und wenn ja, wie würde es aussehen? Im gegenwärtigen Autorenkino herrscht ja gemeinhin ein großes Bewusstsein für soziale Progression, die aber eher an der Singularität und der immer weiter ausgeprägten individuellen Identität interessiert scheint. Die marginalisierte Außenseiter:in, die sich in einem feindlichen Umfeld behaupten muss, ist fast so etwas wie ein kulturgenerationelles Handlungsschema geworden. Ein sozialistisches Kino muss in meinen Augen aber viel pragmatischer, kollektiver, agitativer und ästhetisch schlichter sein (dazu mehr weiter unten). „Between Two Worlds“ von Emmanuel Carrère ist ein solcher Film. Hier begibt sich eine bildungsbürgerliche Autorin, gespielt von Juliette Binoche, auf eine Recherchereise in die Arbeits- und Lebenswelt von Putzfachkräften und bemerkt dabei, wie groß, ja, wie teilweise unüberbrückbar riesig die Kluft zwischen diesen beiden Welten bereits geworden ist.
Bildungsbürgerin als Geheimagentin
Man kann es sich eigentlich sehr schnell und sehr einfach mit der Erklärung machen, warum „Between Two Worlds“ ein guter Film ist: Dass Juliette Binoche als faktische Vertreterin eines akademischen Bürgertums eine akademische Bürgerin spielt, die zu Recherchezwecken in die Niederungen des Arbeitermilieus herabsteigt und ihre Schauspielkollegen dann tatsächlich einen solchen Arbeiterhintergrund haben, der Film zumal an Originalschauplätzen gefilmt worden ist, das ist bereits die kongeniale Form-Inhalt-Setzung, die Emmanuel Carrère aus der Literatur-Vorlage macht. Und den Effekten, die sich aus der Zusammenkunft dieser in der Tat aus zwei verschiedenen Welten stammenden Menschen kommen, zuzusehen, ist eine große Attraktion, die in Wahrheit viel politischer ist als so ziemlich alle französischen Filme der letzten Jahre zusammen. Ausgenommen vielleicht die Werke von Ladj Ly und Stéphane Brizé. An das Sozialkino des letzteren erinnert „Between Two Worlds“ dann auch, ist dabei aber besser, wahrhaftiger, allein deswegen schon, weil Binoche hier Binoche spielt und Arbeiterinnen Arbeiterinnen spielen und nicht Vincent Lindon einen Arbeiter wie bei Brizé. Es ist in meinen Augen ein kleiner Skandal, dass dieser Film nicht im Wettbewerb von Cannes, sondern „nur“ in der Quinzaine gezeigt wurde, während man Brizé als Quoten-Arbeitskämpfer immerzu in den Hauptwettbewerb durchwinkt.
Aufregend ist „Between Two Worlds“ auch deswegen, weil er sich subtil der Genrezismen eines Thrillers bedient. Denn Juliette Binoche ist ja in gewisser Weise „undercover“ in dem sozial schwächeren Milieu unterwegs. Und wenn sie auffliegt, riskiert sie nicht nur ihre Recherche, also ihr Einkommen, sondern ab einem gewissen Punkt auch ihre Freundschaft zu der neuen besten Freundin Cristéle (die von der „echten“ Putzfrau Hélène Lambert grenzgenial performt wird). Mit diesen Spannungsmomenten arbeitet Carrére bewusst, ohne sich ihnen aber zu sehr verantwortlich zu fühlen. Mehrmals kommt ein Moment, in dem Binoches Figur Marianne Winckler kurz davor ist aufzufliegen und es einer klassischen Drei-Akt-Struktur dieser Zeitpunkt durchaus genehm wäre. Marianne fliegt dann aber viel später, viel unspektakulärer auf, während sich Carrère dann Momenten Raum gibt, die ihm viel wichtiger scheinen. Momente zwischenmenschlicher und zwischen-klassischer Spannung, vor allem aber auch Momente reiner, undramatischer Schönheit innerhalb der unterprivilegierten Welt. Manche Situationen profaner, wenn die Figuren zusammen bowlen gehen und über Tattoos reden, trinken — aber nicht zu viel — weil sie am nächsten Tag wieder arbeiten müssen. Manche Situationen dann außergewöhnlicher, wenn sie eine kleine, illegale Party auf der Fähre, ihrem Arbeitsplatz, machen oder eine Arbeitskollegin sekundenlang „die Statue“ macht. Carrères Film hat ein Gespür und eine Geduld für die Schönheit des Alltags, und der Liebesbedingungslosigkeit gegenüber den eigenen Figuren, die man nur sozialistisch nennen kann.
Das sozialistische Kino anno 2022
Zurückgekommen zu der Anfangsfrage nach dem neuen sozialistischen Kino: Vorweg, mir geht es nicht darum, die Legitimation von identitätspolitischer Progression in Frage zu stellen. Die Hegemonie dieser Seite der linken Medaille ist im Kulturbetrieb sicher auffällig und für weitere Nachforschung relevant. Speziell bezogen auf Erzählmedien wie den Film, mag es auch daran liegen, dass die Identitätspolitik bereits in Form protagonistischer Narrative vorliegt, bereits genuin kleine Held:innen-Geschichten erzählen will und damit den etablierten, marktkonformen Erzählformen zu Gute kommt. Ein sozialistisches Kino, das kollektiv und agitativ erzählen will, ist hingegen mit dem Risiko behaftet, wieder dem Pathos von Propaganda-Filmen der 1920er-Jahre nahezukommen. Im Ansatz sehen wir das in Filmen immer dann, wenn sich der Regisseur mitten in das Getümmel einer Demonstration wirft und stolz an der Seite der Masse marschiert.1 Das sind Bildtypen, die abgeschmackt und verdächtig wirken, man kennt sie bereits (aus dem Geschichtsunterricht).
Was muss ein neues sozialistisches Kino also leisten? Im Grunde genommen spricht wenig dagegen, auch hier die Geschichte eines protagonistischen Individuums zu erzählen und von dem aus stellvertretend für das Kolletiv zu agitieren. Im Gegensatz zum identitätspolitischen Kino muss aber die Frage nach materiell-ökonomischer Umverteilung, bzw. damit konkret verbundene politische Forderungen verknüpft sein. Außerdem scheint mir wie erwähnt eine Schlichtheit und Verständlichkeit der Handlung als wichtiges Prinzip, damit geht für mich einher, der Verzicht auf künstlerische Verzierung, die nicht der Handlung dient und sich nur in bezug auf eine erweiterte Kulturkenntnis erschließt. Sowie ein Zurückstellen bürgerlicher Wertedidaktik — also z.B. der ausschließlichen Akzeptanz von Haupt- und Nebenfiguren, die an der Bedingung einer irgendgearteten Läuterung geknüpft sind und damit die immergleichen Erzähltypen hervorrufen — sowie einem aufrichtigen, beobachtenden Interesse an den materiell Schwächsten unserer Gesellschaft. Hierfür würde sich eine Art: neu-sozialistischer Realismus anbieten, der sich am Dokudramatischen orientiert, etwa durch das Besetzen „echter“ Arbeiterinnen im Film. Genau das macht „Between The Worlds“.
Ausblicke
Es gibt in meinen Augen im Deutschen noch keinen vergleichbaren Film (oder?). Ein Film, der das moderne vom Neoliberalismus kaputtgeriebene Prekariat, dessen Habitus, dessen Lebensrealität und -stil, einerseits so glaubwürdig und andererseits so fair in Szene setzt. Denn es ist ja gerade das selbstreflexive Moment, dass der Film aus der Sicht eines akademisch-bürgerlichen Eindringlings erzählt wird, der ja auch für die Regie-Person selbst gilt! (Fast) jeder Film über Arbeiterherkunft sieht sich mit dem Problem einer bürgerlichen Perspektive auf das porträtierte Feld konfrontiert, dazu zitiert sei an dieser Stelle Didier Eribon:
„Von Arbeitermilieus wird nicht oft gesprochen. Und wenn, dann meistens unter der Maßgabe, dass derjenige, der spricht, sie verlassen hat und dass er von seinem ›Aufstieg‹, über den er froh ist, berichten will. Die soziale Illegitimität der Beschriebenen wird genau in dem Moment bestätigt, wo jemand, der die notwendige kritische Distanz (und damit eine wertende, urteilende Perspektive) erreicht hat, sie beschreibt und anklagt.“
Selbst dann noch also, wenn Carrère seinen neu-sozialistischen Realismus (unbewusst) mit ungerechtfertigten Erwartungen an das porträtierte Milieu konfrontieren würde, stellt sich das entgegengesetzte Milieu, das von Carrère und Binoche, selbst zur Disposition. Darum geht es hier, um Begegnung und Austausch, nicht um Belehrung und Überheblichkeit. Weder gibt Carrère hier seine als solche gekennzeichnete Perspektive auf, noch seine Haltung als bildungsbürgerlicher Linker. Warum? Weil ein Realismus, der sich mit dokudramatischen Elementen verbindet, sicherstellt, dass es ein weitestgehend neutrales, deskriptives Beobachten der Figuren gibt und diese nicht über Gebühr von Erwartungen des Autoren oder des Publikums disfiguriert werden. Vielleicht ist es kein Zufall, dass es dazu erst einmal die Verfilmung eines autobiografisch-dokumentarischen Romans bedurfte. Aber daraus einen fiktionalen Realismus als Inspiration für ein neu-sozialistisches Nachfolgekino auszuformulieren, scheint mir prinzipiell möglich. Denn es geht doch schlichtweg um die Haltung: Hinschauen und zuhören.
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- Ein (kleiner) Vorwurf, den ich Ken Loach gerne mache, insbesondere bei seinem Film „I, Daniel Blake“ [↩]
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