Libanesischer Bürgerkrieg als universeller Konflikt.
Originaltitel: Incendies
Alternativtitel: Die Frau, die singt
Produktionsland: Kanada
Veröffentlichungsjahr: 2010
Regie: Denis Villeneuve
Drehbuch: Denis Villeneuve, Valérie Beaugrand-Champagne (basierend auf einem Theaterstück von Wajdi Mouawad)
Produktion: Luc Déry, Kim McCraw
Kamera: André Turpin
Montage: Monique Dartonne
Musik: Grégoire Hetzel
Darsteller: Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette, Rémy Girard, Abdelghafour Elaaziz
Laufzeit: 133 Minuten
Es ist der letzte Wille ihrer Mutter Nawal (Lubna Azabal). Die nach Quebec immigrierte Frau möchte, dass ihre Kinder Jeanne (Mélissa Désormeaux-Poulin) und Simon (Maxim Gaudette) sich in den Mittleren Osten begeben, um dort zwei Briefe zu übergeben. Ein Brief soll an ihren unbekannten Vater gehen, der andere an den Bruder, von dem beide nichts wussten. Jeanne bricht zu einer Reise in das Heimatland ihrer Mutter auf, in dem tief verwurzelter Hass, niemals enden wollende Kriege, aber auch lange überdauernde Liebe herrschen. Es ist zugleich eine Reise in die Vergangenheit und eine Suche nach der eigenen Identität.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 27.06.2014)
„Die Frau, die singt — Incendies“ ist sicherlich das Meisterwerk des viel beachteten kanadischen Regisseurs Denis Villeneuve. Dieser versucht sich hier an einer Theater-Umsetzung des kanada-libanesischen Autors Wajdi Mouawad, der sich wiederum auf das Leben von Souha Bechara stützt. Sicherlich bot sich eine filmische Umsetzung des Stoffes an, denn dieses reizt filmische Mittel wie Ort- und Zeitwechsel aufs Äußerste aus. Villeneuve siedelt seinen Film zwischen Arthouse-Drama und kommerziellen Thriller an. Ein Wagnis, aber eines, das sich auszahlt. „Die Frau, die singt“ ist eine große Regieleistung.
Ein Spiel mit dem Zuschauer
In kühlen Bildern wird zunächst Kanada eingefangen, Heimat der Geschwister Simon und Jeanne Marwan. Erst mit dem rätselhaften Testament ihrer Mutter Nawal Marwan, die aus dem nahen Osten stammt, beginnt der recht klassische dramaturgische Griff einer Reise in die Vergangenheit. Simon und Jeanne reisen in das Heimatland ihrer Mutter und suchen vor Ort ihren Vater und ihren Bruder, denen sie einen Brief übergeben müssen. Villeneuve spielt von nun an ein Spiel mit dem Zuschauer, indem er verschiedene Zeitebenen aus dem Leben ihrer Mutter mit dem Suchbestreben der Kinder gegenüberstellt. Er macht es sich aber nicht so einfach, immer dann die Vergangenheit der Mutter aufzudecken, wenn die Kinder auf ihrer Suche die jeweiligen Hinweise erhalten, es wird auch immer wieder ein rätselhaftes Element eingestreut, das der Zuschauer zunächst kaum zuordnen kann und erst am Ende mit einem der fiesesten Twists der Filmgeschichte vor den Kopf gestoßen bekommt.
Das ausgesparte Wort „Libanon“
Konsequent verweigert sich Villeneuve ein entscheidendes Wort zu verwenden: „Libanon“. Wer sich mit dem Theaterstück oder der Lebensgeschichte der Souha Bechara beschäftigt, weiß sofort in welchem Land „Incendies“ spielen muss. Auch sind die ethnischen Konflikte recht eindeutig libanesische. Villeneuve macht aber seine Geschichte universell, indem er sie nicht auf ein Historiendrama beschränkt. Wichtig ist hier auch, dass ein völkermordähnlicher Konflikt thematisiert wird, in dem Christen Muslime töten und nicht (ausschließlich) umgekehrt. Ebenso verüben die Christen in „Incendies“ Ehrenmorde. Realpolitische Schuldzuweisungen sind nicht das Hauptanliegen von „Incendies“. Die Botschaft ist klar: Man will hier keine Gegenstandsaufnahme eines Nahostkonflikts darstellen, sondern eine allgemeingültige Abhandlung über menschliche Abgründe, die sich im Namen von Religion, Ehre und Vaterland entladen.
Eine Note Lessing
Die gnadenlose Offenbarung, dass alle Menschen miteinander verwandt sind, erinnert sogar entfernt an Lessings „Nathan der Weise“, auch wenn Villeneuves Schlussakt doch deutlich pessimistischer daherkommt. „Incendies“ bringt aber auch ein Schluss-Optimismus mit sich: Nämlich der, das jede Nachfolgegeneration trotz Aufkratzen der Vorgenerationswunden vergessen und vergeben kann. Es gibt immer ein Leben nach dem Konflikt, auch wenn das Leben erst durch den Konflikt entstanden ist.
Auch wenn ein paar Minuten mehr Exposition den Film zu einem noch runderem Meisterwerk gemacht hätte, ist „Incendies“ für einen Denis Villeneuve, der für seine ökonomischen Hollywoodarbeiten bekannt ist, doch schon überraschend und erfreulich dramenlastig. Auch wenn Hardcore-Realisten über die konstruierte Geschichte oder Thriller-Heads über den langsamen Einstieg des Films schimpfen können, am Ende dürfte „Incendies“ mit einem atemberaubend bitteren Furioso doch seinen Konsens schaffen.
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