
Ein Frauenkleid als Pulverfass.
Originaltitel: Mãe só há uma
Produktionsland: Brasilien
Veröffentlichungsjahr: 2016
Regie: Anna Muylaert
Drehbuch: Anna Muylaert
Produktion: Helena Botelho, Maria Ionescu, Anna Muylaert, Sara Silveira
Kamera: Barbara Alvarez
Montage: Helio Villela
Darsteller: Naomi Nero, Daniel Botelho, Daniela Nefussi, Matheus Nachtergaele, Lais Dias, Luciana Paes, Helena Albergaria
Laufzeit: 84 Minuten
Quelle: moviepilot.de
Pierre (Naomi Nero) ist 17 Jahre alt und auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Er geht auf Partys, hat Sex und spielt in einer Band. Seine wichtigste Bezugsperson ist seine Mutter Aracy (Dani Nefussi), die ihn und seine Schwester Jacqueline umsorgt. Eines Tages gerät Pierres Leben jedoch völlig aus den Fugen: Seine vermeintliche Mutter hatte ihn als Säugling aus dem Krankenhaus gestohlen und wird nun verhaftet. Er kommt zu seinen leiblichen Eltern Glória (erneut: Dani Nefussi) und Matheus (Matheus Natchergaele), die Pierre ab sofort nur noch Felipe nennen. Sie versuchen die verlorene Zeit mir ihrem Sohn aufzuholen und wollen seine Erinnerungen an Aracy schnellstmöglich vergessen machen, doch Pierre/Felipe hat seinen eigenen Kopf.
Replik:
2015 machte Anna Muylaert durch ihre feinfühlige Analyse der brasilianischen Ständegesellschaft „Der Sommer mit Mamã“ auf sich aufmerksam. Ihr neuester Streich „Don’t Call Me Son“ hingegen lässt die soziale Spezifikation Brasiliens weitestgehend außen vor. Hierin geht es um den bisexuellen Pierre (Naomi Nero), der ein Faible für Frauenkleider hat und eines Tages erfährt, dass seine alleinerziehende Mutter (Dani Nefussi) nicht seine biologische ist, sondern ihn und seine kleine Schwester Jacqueline (Lais Dias) im Babyalter gestohlen hat. Seine Mutter wird daraufhin inhaftiert und Pierre zu seinen leiblichen Eltern gebracht, deren Freude über das endlich wiedergewonnene Kind aber durch ihre Probleme mit dessen queeren Sexualität getrübt wird. Ein zwar durchaus stark konstruiertes, aber höchst interessantes dramatisches Pulverfass, das ein Recht auf eigene Identitätsausbildung ganz universell diskutiert.

Keine reinen Antipathieträger
Ähnlich wie im japanischen Spielfilm „Like Father Like Son“, in dem es eine Babyverwechslung gibt, konfrontiert Muylaert hier schlagartig eine Familie, die zusammengehört, aber über lange Zeit nichts davon wusste. Die Diskussion über den Wert von Abstammung und Erziehung ist aber nicht der Fokus von „Don’t Call Me Son“. Vielmehr werden familiärer Zusammenhang und elterliche Liebe hier durch einen besonders schwierigen Fall von Akzeptanz und Toleranz auf die Probe gestellt. Denn natürlich liebt Pierres biologischer Vater Matheus (Matheus Natchergaele) seinen Sohn, aber er interpretiert Pierres herausfordernde Kleidungswahl eben auch als Undankbarkeit, da der fast volljährige Sohn natürlich auch über die Enttäuschung und den Scham weiß, den er mit seinem Verhalten auslöst. Es ist eine beeindruckende Stärke, dass es Anna Muylaert hier gelingt, keine Figur unsympathisch oder nicht nachvollziehbar handeln zu lassen. Selbst Nebenfiguren wie Pierres biologischer Bruder Joca (Daniel Botelho) sind überzeugend dramatisch angelegt. Und schließlich gibt es noch die sehr mutige Entscheidung, sowohl die leibliche als auch die nicht-leibliche Mutter von derselben Schauspielerin (Dani Nefussi) spielen zu lassen. Hier ergibt sich allein durch die Casting-Entscheidung schon eine wunderbare Message: Die mütterliche Liebe zeigt sich zwar verschieden, ist doch aber dieselbe mütterliche Liebe.
Reibung am Frauenkleid
Als
zentrale Stärke des Films erweist sich aber zweifellos der
authentisch und klischeelose Umgang mit Bisexualität. Bereits die
erste Szene des Films führt den Zuschauer ganz nah an die sexuelle
Identität von Pierre heran. Wir sehen ihn in einem Frauenkleid auf
einer wilden Party wie er ein attraktives Mädchen scheinbar spielend
zum Rumknutschen überzeugen kann und mit ihr später im Badezimmer
Sex hat. Noch ist eigentlich nicht klar, ob diese Figur dieses Kleid
einfach aus einer ironischen Laune heraus trägt, wegen eines
Partymottos oder ob es tatsächlich Teil einer Bisexualität ist, wie
es sich später herausstellt. Aber auch wenn das Frauenkleid immer
das hauptsächliche Objekt der Reibung an homophober Inakzeptanz
bleibt, erfährt Pierre eine umfangreiche Charakterisierung, die weit
über seinen (aus heteronormativer Sicht) unorthodoxen
Kleidungsgeschmack hinausgeht. Pierre bleibt immer ein realistisches,
mitfühlbares Bild eines jungen Mannes, der genau weiß, was er will
und dafür akzeptiert und respektiert werden will.
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