Realismus in Mosaiksteinen.
Originaltitel: Fabian oder der Gang vor die Hunde
Alternativtitel: Fabian: Going To The Dogs
Produktionsland: Deutschland
Veröffentlichungsjahr: 2021
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: Dominik Graf (nach einem Roman von Erich Kästner)
Bildgestaltung: Hanno Lentz
Produktion: Felix von Boehm
Montage: Claudia Wolscht
Darsteller: Tom Schilling, Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch, Meret Becker, Michael Wittenborn, Lena Baader, Eva Medusa Gühne, Catalina Navarro Kirner, Petra Kalkutschke, Elmar Gutmann, Caroline Adam Bay, Brian Völkner, Sascha Maaz u.A.
Laufzeit: 186 Minuten
Die erste Staffel folgt den Ermittlungen einer Sonderkommission der Polizei von Baltimore gegen den Drogenring Avon Barksdale und dessen „Nummer Zwei“ Stringer Bell. Nachdem ein Mordprozess gegen D’Angelo Barksdale, den Neffen von Avon Barksdale, an einer eingeschüchterten und daher falsch aussagenden wichtigen Zeugin scheitert, beschwert sich der frustrierte Mordermittler Jimmy McNulty bei dem zuständigen Richter Daniel Phelan. Aufgrund des politischen Einflusses von Phelan sieht sich die Polizeiführung gezwungen, eine Sonderkommission einzurichten. McNulty hat bereits den Ruf eines Störenfrieds und fällt bei Kollegen und Vorgesetzten durch diese Aktion vollends in Ungnade. (…)
Quelle: de.wikipedia.org
Replik:
Der deutschsprachige Film und seine Historienstoffe sind eine spezielle Beziehung. Als Exportschlager der an Sünden und Sensationen nicht armen deutschen Geschichte sind sie Wirtschaftsfaktor und gewissermaßen Herzschrittmacher der Filmindustrie; genauso stehen sie symptomatisch für eine Gesellschaft, die ihre eigene Geschichte zwar bestens einstudiert hat, aber eben nur in Form dieser Exportgüter. Dieselben Visagen von SS-Obersturmbannführern, dieselben SED-Schergen, dieselben Kranfahrten-Establishing-Shots, zu denen dann ein Mercedes W150 ins Bild gerollt kommt usw. haben sich tief in das kollektive Unterbewusste eingeprägt. Diese Kopie der Kopie des immerwährenden Geschichtsfilm hätte selbst dann nichts mit Realismus zu tun, wenn er in seiner historisch-mimetischen Darstellungsarbeit makellos wäre (was er nicht ist), weil Realismus erst dann realistisch ist, wenn er uns gewissermaßen überrascht. Diese These mag widersprüchlich erscheinen, aber ich möchte sie anhand des wunderbaren „Fabian oder der Gang vor die Hunde“ von Dominik Graf erörtern, der auf den ersten Blick gar nicht den Anspruch erhebt, realistisch zu sein und es auf den zweiten Blick umso mehr ist.
Realismus als Methode
Zunächst einmal muss definiert werden, was mit Realismus gemeint ist und was nicht. Der Theater-Dramaturg Bernd Stegemann definiert in seinem lesenswerten Buch „Lob des Realismus“ ebenjenen in Anschluss an Bertolt Brecht als eine Methode, die Wirklichkeit begreifbar macht, indem sie ihr etwas Neues hinzufügt. Die Darstellungsweise ist dabei zweitrangig. Diese Definition scheint mir nicht falsch, jedoch sehr intellekt-orientiert bzw. inhaltlich motiviert. Für Stegemann kann also auch eine Darstellungsform, die sich abstrakter Mittel bedient, realistisch sein, sobald sie eine Erkenntnis über die Realität bietet (z.B. Widersprüche aufzeigt). Eine Absage erteilt er der bürgerlichen Authentizität, die Gefahr läuft nach ihren Vorstellung des Authentischen wiederholerisch zu werden, Klischees zu produzieren oder wie Roland Barthes sagen würde: Mythen.
Ich schließe mich der Absage an die bürgerliche Authentizität an, wie sie im Falle des deutschprachigen Historienfilms die Ungeheuer eines „authentischen“ SS-Schergen hervorgebracht hat, der von nun an immer gleich „authentisch“ aussieht. Woran ich nicht anschließe ist der rein-inhaltliche Realismus-Begriff. Realismus ist für mich atmosphärisch, affektiv und non-intellektuell. Realismus erzeugt ein Gefühl von „so kann es (in meiner Realität auch) sein“, oder im Falle des Historienfilms von „so könnte es gewesen sein“. Es ist keine intellektuelle Erkenntnis, sondern ein sensuales Moment, das Eintritt in eine fiktiv-diegetische Realität gewährt. Uns umgebende Realität vergessen macht und uns in eine Zweitrealität stößt, damit eben der genuinen filmischen Qualität der Illusion folgeleistet. Hier schließe ich an Stegemann an, denn genaugenommen ist hierfür die Darstellungsweise zweitrangig. Auch ein Animationsfilm könnte unter Umständen realistischer als ein Live-Action-Historienfilm sein. Und hier setzt auch „Fabian“ an.
Um das Berlin des Jahres 1931 darzustellen, greift Dominik Graf auf einen Modus zurück, der zunächst wie ein manirierter Kompromiss wirkt: Ein schneller Schnitt vermischt Original-Schwarz-Weiß-Footage des Berliner Straßenverkehrs mit den Spielfilmszenen, die in ein Mosaik so kurzer Einstellungen zerhäckselt sind, dass man nicht mitbekommt, dass die Szenen in der Gegenwart gedreht sind und jeder Zeit auch ein syrischer Student auf einem Elektroroller mit einem Kebap in der Hand um die Ecke gefahren kommen könnte. Hin und wieder, wenn es das Budget herzugeben geschienen hat, fährt auch mal ein altertümliches Auto um die Ecke. In den ersten Minuten des Films blickt man noch skeptisch hinter diese Fassade, weil die Absicht klar scheint. Aber „Fabian“ macht die Zuschauerin in gewisser Weise mürbe in seiner Skepsis, bis er sich vergisst, versinkt in diesem Großstadtrausch der Berliner 30er-Jahre, diese vibrante Atmosphäre der Weimarer Republik, die mit dem viel bekannteren Bild des ebenholz-braunen NS- und Kriegsberlins der Nachfolgejahre ja recht wenig zu tun hatte. Ohne, dass Grafs Film das naiv parallelisieren würde, könnte man durchaus sagen, dass Berlin als urbanes Zentrum von Schickeria, sexuellem Hedonismus und künstlerischer Avantgarde mit dem Berlin der 2020er Jahre durchaus vergleichbar wäre. Niemals aber macht Dominik Graf daraus eine stumpfsinnige Gleichsetzung. Es soll schon Filme gegeben haben, die ganz ähnlich eine Querverbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit herstellten (mitunter für banalste Vergleiche) und damit ihren historischen Realismus verwässerten oder ganz über Bord warfen. Graf macht das nicht. In „Fabian“ ist Berlin trotz seiner mitunter verspielten Erzählmethoden, filmischen Selbstreferenzen und gezielt verfremdenden Effekten in Szenenbild und Kostüm atmosphärisch immer das Berlin des Jahres 1931. Selbst als die Hauptfiguren auf Stolpersteine über die NS-Zeit treten, die zu dieser Zeit ja dort gar nicht sein konnten oder bestimmte Klamotten tragen, die es zu dieser Zeit nicht gegeben hat, sind das keine Brüche mit der realistischen Stimmung, die der Film heraufbeschwört.
Das überraschende Moment
Und wie macht er das? Es sind eben diese Momente der Überraschung. Die Momente, in denen das angelernte Klischee des historischen Gegenstandes kollidiert mit einer dargestellten Szene, einem Moment, einem Blick, einer Beobachtung, die eine Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit in sich hält und ein „so könnte es gewesen sein“ erzeugt. Selbst wenn „Fabian“ immer wieder Momente des Rausreißens beinhaltet, so ist die schiere Quantität an Momenten überraschender Wahrhaftigkeit so gigantisch, ein solches Meer an erinnerungswürdigen Zugriffen auf eine vergangene Realität, dass der Film zu einem lebendigen, überbrodelnden Kosmos wird. Eine Welt, in der es wuselt wie in einem Salon-Gemälde der Neuen Sachlichkeit, auf die Graf auch Bezug zu nehmen scheint. Im Grunde ist die Kunst der Neuen Sachlichkeit, als die Kunst der Weimarer Republik, ja auch ein Realismus, der ganz entschieden nicht naturalistisch, also nicht maximal-mimetisch funktioniert.
Man kann sich „Fabian“ immer und immer wieder ansehen und wird neue Dinge darin finden. Immer wieder besticht, welche erfrischenden Details und überraschenden Akzente der Regisseur findet, die sich ganz gezielt dem Meer an toter Pappkameradenkonventionen des deutschen Historienfilms zuwiderlaufen, die sich im kollektiven Unterbewussten des deutschen Kinopublikums eingenistet haben. So sehr ein Film, zumal ein historischer, immer davon profitiert, die dargestellten Momente neu zu durchdenken und zu durchfühlen, anstatt die unterbewusste Pappkameradschaft (man könnte auch Klischees sagen) zu wiederholen, so sehr macht Graf hieraus eine allgemeine Philosophie, deren Nachdrücklichkeit bemerkenswert ist. Eine wichtige Rolle spielt darin die Haltung zum aufsteigenden Nationalsozialismus, dem man versucht wäre, als Film im Vorabend der Nazi-Herrschaft angesiedelt, zum alles-dominierenden Damoklesschwert zu beschwören. Spür- und sichtbar in jeder einzelnen Szene, jeder einzelnden Mimik jeder einzelnen Figur. Aber damit wäre man dem Geist jener Zeit eben nicht gerecht geworden, war er doch nur Phänomen unter vielen; war er doch ein Gespenst, dessen Wirkung noch nicht klar war. War er doch nichts was die Menschen davon abhielte, sich zu lieben, baden zu gehen, im Garten zu arbeiten, Filmkarrieren unter schmierigen Regisseuren in Kauf zu nehmen, an die Zukunft zu glauben, Tanzlokale zu besuchen, zu feiern, zu rauchen und trotz Arbeitslosigkeit und Deflation optimistisch zu leben. „Fabian“ ist der einzige Film, der das begreift, der es scheinbar schafft, hinter das Wissen des historischen Ausgangs atmosphärisch zurückzugehen (freilich nicht ohne Hilfe Erich Kästners). Es ist doch erfrischend, wie die SA hier nicht als tot-gesichtete Judensau schreiende Teufelbande auftritt, sondern als Randfiguren pathetischer Jugendlicher mit Soldatenhaarschnitt und berlinernden Sätzen wie „Ein Mensch braucht eine Heimat und sonst nüschts“ oder auch nur einem prollig-pfeifenden „Guten Abend!“ Und liegt hierin nicht auch eine Mahnung an die Gegenwart, die viel weiser ist als eine plumpe Parallelisierung der NS-Ideologie mit dem Rechtspopulismus unserer Tage? Dass wir den tatsächlichen Ausgang der Geschichte eben nicht begreifen können und es morgen schon ganz anders sein kann?Der politischen Verantwortung wird Dominik Graf damit ganz anders gerechet. Denn sein Film, der stilistisch an die Neue Sachlichkeit anschließt, der das sexuelle Freizügige auch zelebriert und sich innerhalb des unübersichtlichen Meeres verzweifelter richtungsloser Jugend auch solidarisiert. Der im Grunde das feiert und zum filmischen Modus des Realismus gedeihen lässt, was die Nazis später „entartet“ nannten. Darin liegt doch eine politische Haltung, die viel wahrhaftiger ist als ein regelbuchkonformer Zeigefinger. „Fabian“ ist auch deswegen so wunderschön, weil die Haupthandlung gar nicht mal das Wichtigste an dem Film ist (wovon diese Replik hier ja gewissermaßen zeugt), sondern von kleinen, unwichtig erscheinenden, unökonomischen Momenten, die jeder Fernsehredakteur im Fördergremien aus dem Buch gespart hätte. Hier aber? Junge Mädchen mit Luftballons auf dem Berliner Flur. Auch in den 30er Jahren muss es zu laut zum Schlafen gewesen sein. Ja, so könnte es gewesen sein.
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