78 Releases von 2023 im Rückblick.
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Filme standen in diesem Jahr nicht im Fokus, jedenfalls nicht in der zweiten Hälfte des Jahres. Zwischen September und Januar war die Freude ganz meinerseits, noch ein Auslandssemester in Istanbul machen zu dürfen. Erstmals ist die Anzahl an Releases eines Filmjahres damit weiter unter der 100 geblieben und wichtige Titel von Größen wie Andrew Haigh, Radu Jude oder Yorgos Lanthimos konnten im Jahre 2023 von mir nicht abgedeckt werden. Daher muss sich dieser Rückblick als ein eingeschränkt repräsentativer verstanden wissen und im Jahre 2024 steht ein „doppelter Jahrgang“ zuvor, wo die wichtigsten verpassten Filme also nachgeholt werden.
Wenn wir eines 2023 gelernt haben, dann: Es gibt wieder ein großes gesellschaftliches Interesse am Autorenkino! Allerdings bezieht sich diese Erkenntnis auf „Barbenheimer“ als Memephänomen. Im Sommer des Jahres pilgerten also massig Menschen in das Kino, um Greta Gerwigs „Barbie“, Christopher Nolans „Oppennheimer“ oder eben gleich beide Werke hintereinander weg zu schauen. Und natürlich lässt sich „Barbenheimer“ nicht nur als ein sich-selbst-verstärkender Massenwitz verstehen, sondern auch dergestalt, dass beide Filme eng mit ihren FilmemacherInnen verknüpft sind. Man hat diese Filme eben auch mit dem Hintergedanken gesehen, dass das die neuen Filme von Greta Gerwig und Christopher Nolan waren und das wiederum lässt sich nur verstehen, dass beide FilmemacherInnen auch eine Star-Persona und Identifikationsfiguren für ein bestimmtes Filmemachen sind. Gerwig für ein feministisches, massentaugliches, auch ein wenig quirky-überzuckertes Kino, das man „schon irgendwie liebhaben“ muss und Christopher Nolan jeher für ein Kino des handwerklichen Bombast; ein Kino der erzählerischen und kinematografischen Herausforderung. Die eine kämpft gegen das Patriarchat, der andere seinen eigenen sisyphosalen Kampf gegen große Felsbrocken des Filmemachens, die er selbst erst erschafft. Zwei Superhelden, deren Unterschiedlichkeit in dem Meme „Barbenheimer“ ja auch genug betont (und ironisiert) worden ist.
Aber vielleicht braucht es also das: Autorenfilmer müssen wieder Stars sein. Gesichter, über deren Spleens und Kämpfe man sprechen will, wie das im Gewerke der Schauspieler ja gang und gäbe ist und das auch in der Regie in der Glanzzeit des Kinos auch etablierter gewesen ist.
Was gab es sonst noch? In Venedig und Cannes haben herausragende Filme den Hauptpreis gewonnen, während die Berlinale mit der Wahl eines französischen Dokumentarfilms weiter an seiner Provinzialisierung gearbeitet hat.
Out Of Competition • „Das Lehrerzimmer“ (Ilker Çatak, 2023) • „Heimsuchung“ (Ahmed Abdel-Salam, 2023) • „MENUETT“ (Hans Broich, 2023)
Leider überhaupt gar nicht 078. „Women Talking“ (Sarah Polley, 2022) 077. „World War III“ (Houman Seyyedi, 2022) 076. „Sterne unter der Stadt“ (Chris Raiber, 2023)
Ablehnung 1: Aktivistische Agitationsbemühung Warum „Women Talking“ ein durchschnittlicher, ja, geschweige denn guter Film sein soll, konnte mir noch niemand erklären, der den Film nicht per Zirkelschluss durch seine feministische Agenda als „gut“ erklärt, also Absicht und Ergebnis von vornherein kurzschließt. „Women Talking“ besteht aus sehr bekanntne Schauspielerinnen, die in eine vermeintliche historische Vergangenheit hineinkostümiert, im Kreise sitzend und paar Talking Points hin- und herwerfen, die sowohl in Niveau als auch in Duktus mit einem Gender-Studies-Basisseminar quasi in eins fallen. Kaum ernsthaft mit den Weisen des Denken, Handelns und Sprechen der porträtierten Zeit auseinandergesetzt, mit einer furchtbar belanglosen Kamera und klischierten Plot Points wäre „Women Talking“ selbst dann mehr belehrendes Theaterstück als Film, wenn er wenigstens ein Originalstoff von Sarah Polley gewesen wäre, aber dass er auch noch Romanadaption ist, aber in keinster Weise irgendeine Form von literarischem oder filmhandwerklichen Geistreichtum atmet, macht das Scheitern des Filmes deutlicher.
Rather not. 075. „A Higher Law“ (Octav Chelaru, 2021) 074. „Elvis“ (Baz Luhrmann, 2022) 073. „Im toten Winkel“ (Ayşe Polat, 2023) 072. „Scherzo“(Takayoshi Shiokawa & Kanta Tomatsu, 2021) 071. „Cocaine Bear“ (Elizabeth Banks, 2022) 070. „Music“ (Angela Schanelec, 2023) 069. „Of An Age“ (Goran Stolevski, 2022) 068. „Air“ (Ben Affleck, 2023)
Ablehnung 2: Sexistischer Kitsch „Sterne unter der Stadt“: „Ein bis zur Geschmacklosigkeit kitschiger Jeunet-Epigone, der insbesondere im Drehbuch eklatante Schwächen aufweist. Motive werden eher wiederholt, als wirklich weiterentwickelt. Alle Erzählmomente sind vorhersehbar und ohnehin rein kompilativ. Das Schlimmste am Film ist aber, dass er im Grunde eine reine Rechtfertigungsideologie für creepiges, männliches Verhalten darstellt, Frauen nachzustellen, nur weil man ja ein romantischer-liebenswerter Freak ist (für den der Schönling Thomas Prenn ohnehin die falsche Besetzung ist). Dass Verena Altenberger (die noch das Beste am Film ist) mit ihrem ausschließlich für diesen antifeministischen Film glattrasierten Schädel eine Feminismusdiskussion in Österreich auslöste, gehört zu den Begleitironien dieses Films.“
Mhmmm. 067. „Feminism WTF“ (Katharina Mückstein, 2023) 066. „The Temple Woods Gang“ (Rabah Ameur-Zaïmeche, 2022) 065. „Decision To Leave“ (Park Chan-Wook, 2022) 064. „The Five Devils“ (Léa Mysius, 2022) 063. „Glass Onion“ (Rian Johnson, 2022) 062. „The Adults“ (Dustin Guy Defa, 2023) 061. „The Happiest Man In The World“ (Teona Strugar Mitevska, 2022) 060. „Oppenheimer“ (Christopher Nolan, 2023)
Enttäuschend: „Return To Seoul“ „Insbesondere mit großem audiovisuellen Einfallsreichtum begibt sich Davy Chou auf eine emotional komplexe Rückkehrgeschichte einer Französin mit koreanischer Adoptivvergangenheit, die auf ihre leiblichen Eltern in Seoul trifft. Dass die Klassenfrage hier vollständig von kulturellen Unterschieden verdeckt wird, ist schade, aber noch das kleinste Problem des Films, denn „Return To Seoul“ leidet ganz elementar unter seiner Hauptfigur Frédérique: In den ersten zehn Minuten nimmt man die außerordentlich selbstbewusste junge Frau noch als spannend war, wenn sie die „Balls“ hat, eine gesamte Sojubar voller schüchterner Koreaner zusammenzubringen und sich sogleich einen jungen Mann dort aufzureißen. Aber spätestens als sie auf ihren eigenen Vater trifft, fragt man sich nur noch was falsch mit dieser Dame ist. In fast jeder Dialogzeile entblättert sich eine Persönlichkeit, die pathologisch narzisstisch sein muss, um derart respektlos gegenüber allem und jedem aufzutreten. Wenn Davy Chou damit den eurozentrisch-liberalen Lifestyle mit seinen blinden Flecken gegenüber fremdkulturellen Eigenheiten aufzeigen wollte, dann ist ihm das nur in Form einer Farce, nicht aber als eine emotional nachempfindbare Geschichte über Herkunft gelungen, die der Film — wie mir scheint — am Ende doch eigentlich sein wollte.“
Yayy. 059. „Babylon“ (Damien Chazelle, 2022) 058. „Vienna Calling“ (Philipp Jedicke, 2023) 057. „Empire Of Light“ (Sam Mendes, 2022) 056. „Regardless Of Us“ (Yoo Heong-jun, 2023) 055. „Blonde“ (Andrew Dominik, 2022) 054. „The Shadowless Tower“ (Zhang Lu, 2023) 053. „Blue Jean“ (Georgia Oakley, 2022) 052. „Niemand ist bei den Kälbern“ (Sabrina Sarabi, 2021) 051. „The Batman“ (Matt Reeves, 2022) 050. „Return To Seoul“ (Davy Chou, 2022) 049. „Suzume“ (Makoto Shinkai, 2022) 048. „Infinity Pool“ (Brandon Cronenberg, 2023) 047. „Do You Love Me?“ (Tonya Noyabriova, 2023) 046. „20,000 Species Of Bees“ (Estibaliz Urresola Solaguren, 2023) 045. „Bis ans Ende der Nacht“ (Christoph Hochhäusler, 2023) 044. „Black Box“ (Aslı Özge, 2023)
Ein Herz für das erzählerische Experiment ♥ „The Plains“: „Drei Stunden lang sehen wir immer wieder in Echtzeiteinstellungen denselben 60-jährigen White Collar Andrew Rakowski von seiner Arbeit in Melbourne nach Hause fahren. Manchmal nimmt er seinen jüngeren Arbeitskollegen David mit, „gespielt“ vom Regisseur des Films David Easteal. Natürlich ist „The Plains“ als Filmprojekt eine radikale Geste, zu der sich verschiedene Zugänge legen lassen. (…) Irgendwo ist „The Plains“ vielleicht sogar ein Film über Alzheimer, denn es sind ja gerade die immer wiederkehrenden Zeitstrukturen, in der die Zeit zerrinnt (ohne großartige Marker, wie viel Zeit denn nun gegenüber der letzten Einstellung vergangen ist) und am Ende wartet nicht einmal ein Kind auf Andrew, das sich seiner Krankheit annehmen wird, denn er hat entschieden, kinderlos zu leben. Ein Leben als Autofahrt. (…)“
Alright! 043. „Safe Place“ (Juraj Lerotić, 2022) 042. „Roter Himmel“ (Christian Petzold, 2023) 041. „Drifter“ (Hannes Hirsch, 2023) 040. „Burning Days“ (Emin Alper, 2022) 039. „The Beast“ (Bertrand Bonello, 2023) 038. „Corsage“ (Marie Kreutzer, 2022) 037. „Rheingold“ (Fatih Akin, 2022) 036. „A Man“ (Kei Ishikawa, 2022) 035. „Living“ (Oliver Hermanus, 2022) 034. „Wann wird es endlich wieder so wie es nie war“ (Sonja Heiss, 2023) 033. „The Burdened“ (Amr Gamal, 2023)
Erfrischend: Drogenverkaufen in Istanbul Wer mal in Istanbul gelebt hat, weiß: Es ist gar nicht so einfach in der Bospurusmetropole an gute Drogen zu kommen. Es ist auch ein bisher nicht besonders viel bespielter Topos im türkischen Kino über die Schulter eines Dealers zu blicken, wohl auch deswegen, da Land und Kulturförderung gleichermaßen konservativ sind (wenngleich vielleicht nicht im selben Ausmaß). „The List Of Those Who Love Me“ ist aber noch mehr, denn er erzählt intelligent über Klassen in Erdogans Türkei. Die Hauptfigur Yilmaz ist nämlich ein Grenzgänger zwischen einer Arbeiterklasse an den Rändern der Stadt und einer zugekoksten Künstlerbubble, die sich von dem vermeintlichen Freund gerne die Drecksarbeit in Form von Drogenbeschaffungen machen lässt, ihn aber zu jeder Zeit auch wieder davonwürfe wie eine heiße Kartoffel. Das bitterböse Ende von „The List Of Those Who Love Me“ ist ein Racheakt an der heuchlerischen bürgerliche Kaste.
Honorable Mentions 032. „Navalny“ (Daniel Roher, 2022) 031. „The Plains“ (David Easteal, 2022) 030. „Sparta“ (Ulrich Seidl, 2022) 029. „Cairo Conspiracy“ (Tarik Saleh, 2022) 028. „Scarlet“ (Pietro Marcello, 2022) 027. „Argentina, 1985“ (Santiago Mitre, 2022) 026. „The List Of Those Who Love Me“ (Emre Erdoğdu, 2021)
Die Top 25 der besten Filme 2018
025. „Metronom“ (Alexandru Belc, 2022)
„Mit großem handwerklichen Können umgesetzter Historienfilm, der mit einem historischen Spezifikum (eine rumänische Jugend, die sich ganz der westlichen Rockmusik verschrieben hat und den verbotenen amerikanischen Sender Radio Free Europe hört) auf das historische Ganze der rumänischen Ceausescu-Gesellschaft verweist. Manchmal dramaturgisch etwas unübersichtlich, bleibt der Film vor allem durch gutes Schauspiel, stark nachempfundene psychologische Situationen und atmosphärische Momentaufnahmen in Erinnerung.“
024. „To Leslie“ (Michael Morris, 2022)
Ein wichtiger Beitrag zum modernen Klassenkampfkino ist empathische Solidarität mit modernem Prekariat. Das US-amerikanische Kino ist uns hier meilenweit voraus, vielleicht aber auch deswegen, da die amerikanische Unterschicht auch den Maßstäben europäischer Sozialpolitik meilenweit nach unten enteilt sind. Sei’s drum. Auch wenn eine Oscarnominierung immer mindestens genauso viel über die Kampagne und ihre Macht dahinter aussagt, wie über eine tatsächliche Schauspielleistung stimmt es natürlich: a) Andrea Riseborough ist in „To Leslie“ absolut super. b) wir müssen mehr über Klasse reden!
023. „Sick Of Myself“ (Kristoffer Borgli, 2022)
„Ein schwieriger Film, den man im Grunde auf zwei Weisen sehen kann. Entweder man nimmt die Figuren als solche ernst, was nicht ganz abwegig ist, denn das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit (und Liebe) der Hauptfigur hat schon empathische Anknüpfungspunkte, die am Anfang auch bedient werden. Aber verfolgt man den Film auf dieser Fährte, wird man den ihn womöglich eher hassen. Denn im Grunde ist „Sick Of Myself“ auch sick of its own characters . Die Figuren sind nur Funktionsträger eines extrem zynischen Sketchspiels, was nun nur zweiten Weise des Sehens führt: Als Planspiel über Aufmerksamkeitsökonomie und zeitgeistiger Narzissmus funktioniert „Sick Of Myself“ ziemlich gut. Die Dialoge sind immer mindestens solide, manchmal aber auch brillant und so messerscharf geschrieben, dass man sich davon versehentlich eine Fleischwunde abholen könnte. Bitterböse und ein bisschen auch eklig. Eklig-zynisch. Ein Drecksfilm. Aber irgendwie eben auch gut. Und die Kamera verdient in dem genauen Wissen darüber, was sie zeigen will und wie , ein extra Lob.“
022. „Delegation“ (Asaf Saban, 2023)
„Wer es noch nicht gewusst hat, der wird sich zumindest nicht wundern, dass israelistische Schulklassen mindestens einmal eine obligatorische Klassenfahrt nach Polen unternehmen, um dort die musealen Überbleibsel der Vernichtungslager zu besuchen. Ein solcher Trip hat natürlich einerseits eine politische und erinnerungsethische Implikation, andererseits ist er natürlich, nunja, eben eine Klassenfahrt. Dieses Nebeneinander der großen historischen Trauer und den herkömmlichen Emotionen des Jungseins bildet „Delegation“ hervorragend ab und findet darüber hinaus sogar spannende Parallelen. Hier geht es darum, dass Dinge, über die man schon viel gehört hat, sich am Ende vielleicht doch anders anfühlen, als gedacht. Gefühle können komplex sein; situativ, flüchtig, überwältigend. Ungewöhnlich komplizierte Empfindungen seines großartigen jugendlichen Ménage-à-trois schafft es Regisseur Asaf Saban nachvollziehbar und -fühlbar zu machen.“
021. „Beau Is Afraid“ (Ari Aster, 2023)
„Ein weiterer sehr gelungener Film einer der wenigen Jungregisseure des Weltkinos, die eine formalästhetische und intellektuelle Größenambition in einer Riege mit Stanley Kubrick und Lars von Trier haben und auch durch Regietalent entsprechend unterfüttern können. „Beau Is Afraid“ beginnt mit einer großartigen Prämisse der hypersubjektivistischen Angstdarstellung. Und als diese sich zu erschöpfen droht, etwa nach 30 Minuten — (tatsächlich fühlt sich die Exposition ein wenig nach einem Kurzfilm an) — geht Ari Aster die nötigen Schritte weiter, um den Film zu einem völligen Bewusstseinsstrom auszuweiten. In der Mitte und gegen Mitte-Ende hat der Film dabei aber einigen erzählerischen Balast, der ihm nicht unbedingt gut tut, weil die psychedelische Rauschwirkung des Films das unnötige Risiko eingeht, durch zu viel Nebenschauplatzdramaturgie aus dem Psycho-Sog zu entkommen und „nüchterner“ auf das Erzählte zu blicken. Trotzdem ein unbedingt sehenswerter, psychoanalytischer Auteurfilm, der zu einer interpretativen Re-Synopsis mit Freud, Jung und insbesondere Alice Miller einlädt.“
020. „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ (Emily Atef, 2023)
„In einer glühend-gelblichen Sommerwelt in Brandenburg erzählt Emily Atef hier tatsächlich als Romanze keineswegs besonders überzeugend die Geschichte einer Liebschaft, aber darum geht es vielleicht auch gar nicht so sehr. Akzentuiert wird die (weibliche) Lust und erotische Kraft des Autoritären. Zwischen wunderbar mundartgerechten Zeitkoloritszenen, die einem die Zäsur des Systemendes der DDR psychosozial nachvollziehbar macht, findet hier immer wieder heißer heißer Sex statt, den man selten so sinnlich und eigensinnig inszeniert gesehen hat. Zwischen zwei Männern steht die Hauptfigur Maria: einem Jüngling mit Träumen der (geeint-deutschen) Zukunft und einem 40-jährigen Pferdezüchter, der so sehr Sinnbild des untergegangenen Systems der DDR ist, dass er sogar buchstäblich wie ein Arbeiter auf sozialistischen Propagandaplakaten aussieht . Will man das Stockholmsyndrom einiger Ostalgiker gegenüber autoritären politischen Kräften verstehen, ich behaupte, man kann von dem female gaze dieses Filmes sehr viel daraus herleiten.“
019. „Zero Fucks Given“ (Emmanuel Marre & Julie Lecoustre, 2021)
Die Figur, die Adèle Exarchopoulos, ein Star des französischen Kinos, in diesem Indiefilm mimt, ist nichts Besonderes. Eine Stewardess aus unterer Mittelschicht mit ziemlich banalen Vorlieben und Träumen (einmal bei einer Fluglinie zu arbeiten, die nach Dubai fliegt). Spätestens als der Film dann wirklich mit ihren leuchtenden Augen endet, begeistert von einem künstlichen Springbrunnen in den Vereinigten Arabischen Emiraten, haben wir diese Person kennengelernt. In ihrem Beruf (sehr detailgetreu entführt „Zero Fucks Given“ in dieses Metier), vor allem aber ihre Vorlieben und Träume. „Zero Fucks Given“ ist ein Kino, das die mittelständische Durchschnittlichkeit und Ideale ihrer Figur nicht von einem kritischen Blick befreit, aber doch irgendwie liebhat. Nie zelebriert, aber doch nachfühlen kann. Wir bräuchten viel mehr solcher Filme.
018. „The Delinquents“ (Rodrigo Moreno, 2023)
Argentinien ist für mich ein filmischer Sehnsuchtsort, u.A. wegen Filmen wie „The Deliquents“. In kaum einem anderen Land gibt es so eine reiche Tradition und beeindruckende Gegenwartskultur, Erzählformen neu zu denken und Genres zu dekonstruieren. „The Delinquents“ beginnt als eine Art Heist-Komödie und zerdehnt sich dann selbst in einer poetischen Nachbesprechung eines Diebstahls, der immer so komödisch-unwirklich bleibt, dass man sich fragt, ob man nicht eh noch in einem Gedankenspiel ist, einem literarischen Konjunktiv. Erzählrhythmus und -tonalität transzendieren den reinen, denotativen Inhalt.
017. „Autobiography“ (Makbul Mubarak, 2022)
„Ein sensationeller Geheimtipp aus Indonesien. Zwar ist der Titel ein bisschen eine leere Provokation, denn es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Film tatsächlich eine Autobiografie der Regieperson wäre, auch kommt der Film dem Wesen des Autobiografischen 1 formalästhetisch nicht wirklich nach, und trotzdem! „Autobiography“ ist ein Film über die Frage: Was macht Menschen zu Machtmenschen? Wir verfolgen Rakib, einen Bediensteten des ehemaligen Militärs General Purnawinata, der jetzt versucht, als Politiker zu reüssieren und eine Wahl zu gewinnen. Der Film spürt der Machthierarchie der beiden Männer nach, die ein komplexes Verhältnis zwischen familiär-generationeller Verbundenheit, Kalkül, Klassenunterschieden, aber auch manchmal dem Anschein wahrer Zwischenmenschlichkeit bildet. Der General Purnawinata ist zwar zweifellos ein Narzisst und Verächter der einfachen Leute und trotzdem blitzt immer wieder die Einsamkeit der Spitzenposition auf. Also, gewissermaßen die Abhängigkeit die der Herr, frei nach Hegel, ja immer auch vom affirmativen Blick des Beherrschten hat. In einem brillanten, reduzierten Drehbuch werden die trügerischen, teils heuchlerischen, teils willkürlichen Machtmechanismen aufgedeckt, in einer Gesellschaft, die nur seiner reinen Rechtsform nach demokratisch ist.“
016 „Barbie“ (Greta Gerwig, 2023)
„Dass „Barbie“ der erfolgreichste Film einer Frau aller Zeiten und allgemein ein absoluter Welterfolg ist, überrascht insofern nicht, dass „Barbie“ ein regelrechtes Meisterwerk der Mehrfachadressierung ist. Gerwig holt mit ihrer poppigen Oberfläche das Mainstreampublikum, mit den Trashfaktoren und Feminismusreferenzen das Arthouse-Publikum, bedient einerseits die Mattel-Spielzeugmarke affirmativ und unterzieht sie gleichermaßen einer kulturwissenschaftlichen Kritik, ist anzüglich und kinky, aber augenzwinkernd und so subtil, dass der Film sogar noch für die „ganze Familie“ funktioniert. Nostalgien werden bedient und in moderne Diskurse gehievt. Gerwigs feministischer Ansatz ist zwar klipp und klar im Second Wave verhaftet, in jedem Fall aber klug und beachtlich überschaubar darin, sich in diskursivem Erklärbärinnenjargon zu ergehen. „Barbie“ ist ein hochintelligentes Diskursvehikel, das präzise darüber philosophiert, wie sich gesellschaftliche Ideale/Fantasien und Realitäten gegenseitig beeinflussen. Einige Momente sind von großer Virtuosität, auch wenn der Film etwas zu quietschbunt ist, um ihn sich sofort noch einmal ansehen zu wollen. Für den Spielzeughersteller Mattel ist „Barbie“ ein absoluter Glücksgriff. Nicht nur, weil hier unverhältnismäßig große Box-Office-Anteile zu erwarten sind; nein, im Grunde hat Greta Gerwig deren veraltete Marke komplett grundsaniert, weil „Barbie“ jetzt in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht mehr eine merkwürdige, bestenfalls nostalgische Puppe aus der Vergangenheit ist, sondern eine Ikone, zwischen Selbstironie und Selbstbestimmung.“
015. „Causeway“ (Lila Neugebauer, 2022)
Innerhalb des Dramas als Filmgenres könnte man fast ein Sub-Genre darin ausmachen, zwei Figuren aufeinandertreffen zu lassen, die ganz wesentlich ihre Backstory Wound sind. Wenig Filmen gelingt ein so feines Herausschälen bedeutsamer Moment, die tief in das Vergangene blicken (und manchmal auch nur fühlen!) lassen wie „Causeway“. Ein Meisterwerk der präzisen Andeutungen.
014. „Love According To Dalva“ (Emmanuelle Nicot, 2022)
„Wirklich harte Kost über ein Mädchen, das vom Vater missbraucht wurde und anschließend in einem Kinder- und Jugendheim, die Narrative des Vaters weiterlebt. Die junge Dalva hält sich für eine erwachsene Frau und fordert mit Selbstverständlichkeit eine vermeintliche sexuelle Selbstbestimmtheit für sich ein. Auch ein gewisses Wir-gegen-den-Rest-der-Welt-Haltung scheint im Kind vorzuherrschen. Psychologisch scheint mir das alles von großer Akkuratheit zu sein und schauspielerisch wirklich großes Kino der jungen Zelda Samson (aber auch allen anderen Beteiligen!) Sensationell, wie die junge Französin bereits in ihrer Körpersprache das „andere Aufwachsen“ ihrer Figur spürbar macht, ohne dass das der Film zu plakativ auserzählen würde. Das Drehbuch entblättert langsam das Geschehene, bleibt aber bis zum Ende hin um die komplex gebrochene Kindheit und die anbrechende Frauwerdung der Dalva-Figur, statt sich in große emotionale Ausbrüche oder Diabolisierungen von Männlichkeit zu verrennen. Großes Kino, das thematische Sensibilität mit handwerklicher Finesse verbindet.“
013. „RRR“ (S. S. Rajamouli, 2022)
„RRR“ ist einer dieser Film, deren kommerzielles Erfolg zu seinem filmhistorischen Sendungscharakter beiträgt. Zwar ist „RRR“ sicherlich einer der beeindruckendsten Arbeiten Bollywoods und dennoch ziemlich archetypisch für diese Art von Kino, sodass viele Dinge, die an „RRR“ beeindrucken oder es ins popkulturelle Langzeitgedächtnis geschafft haben, vor dem Hintergrund der Gesamheit Bollywoods vielleicht gar nicht so besonders scheinen. ABER: Sein einschlägiger Erfolg, verbunden mit der klaren Positionierung als hindu-nationalistischer anti-kolonialer Film macht „RRR“ möglicherweise tatsächlich für einen filmhistorisch hochrelevanten Film, da er sowas wie ein kulturpolitischer Wendepunkt markieren könnte. Weg von einem westlich-hegemonialen Blick im Mainstream- und Attraktionskino, hin zu einem wie von „RRR“, wo trashige Weltlogik und großer Pomp eng beieinander sind, wo gesingt, getanzt und gekämpft wird. Kurzum: Wo vieles, was heute Meme und Phänomen ist, morgen ein ganz normaler (dreistündiger) Kinoabend sein kann.
012. „Passages“ (Ira Sachs, 2023)
Man kann also im Jahre 2023 noch Fassbinder-Filme machen! Ira Sachs‘ Figuren sind offensichtlich in ihren Emotionen, gar ein bisschen theatral. Trotzdem oder gerade deswegen funktionieren sie. Franz Rogowskis Figur ist ein Arschloch, dessen narzisstische Kränkungen sofort als solche erkennbar und somit zu Situationskomik werden. Dabei erhebt sich Sachs aber auch nicht über seine Figuren, in der gut beobachteten Konturiertheit der Erbärmlichkeit bleibt trotzdem noch genug Freiraum, den Film auch als etwas ganz anderes, denn als eine bissige Satire auf freizügiges Liebesleben im linksliberalen Milieu zu sehen, ihn vielleicht sogar ganz und gar als Figurendrama ernstzunehmen. Sachs jongliert mit heiklen Fragestellungen neuer urban-arkademischer Liebessemantik bissig und intelligent.
011. „The Night Of The 12th“ (Dominik Moll, 2022)
„Der Kriminalfilm als Dekonstruktionsgeste und feministischer Schrödingerkatze. Streckenweise sieht „The Night Of The 12th“ so aus, als hätte es den dramaturgischen Erfahrungsschatz etlicher TV-Kriminalfilme, auf den Moll aufbauen konnte, nie gegeben. Irgendwie geht er dramaturgisch konventionell vor, lässt nach und nach Verdächtige verhören und private Mikrokonflikte der Ermittler auf die Handlung träufeln, dann wieder interessiert er sich für Randständiges wie einen kaputten Drucker. Die eigentliche Doppel-Pointe ist aber — SPOILER — dass der Mord hier nie geklärt wird, obwohl wir ihn als Zuschauer am Anfang sogar sehen können. Ein regelrechter Kommentar auf das Genre des Kriminalfilms, in dem nahezu jeder Fall gelöst wird, was, wie wir bereits im Vorspann lernen, ein Klischee ist, das nichts unbedingt mit der Realität zu tun hat. So narrt uns Moll das eine oder andere Mal und nährt unsere Hoffnung, aber bleibt am Ende doch in trostloser Gnadenlosigkeit. Und natürlich steckt hierin auch das feministische Moment des Films, denn: Der Femizid könnte hier von jedem begangen sein!“
010. „The Zone Of Interest“ (Jonathan Glazer, 2023)
„Das Offensichtliche und doch Nicht-Gezeigte, der industrielle Massenmord vor der eigenen Haustür erzählt Jonathan Glazer, von einer großen Auschwitzer KZ-Mauer verdeckt, ausschließlich über den Ton. Im Hintergrund rufen die Menschen ihre Todesschreie, knattert das MG und immerzu flicken die Krematorien ihren Klangteppich des nichtendenwollenden Todes. Dabei sind die Proportionen, ja, die akustische Relation zur Handlung des Ehepaar Höß durch das Sound Mixing von noch größerer künstlerischer Relevanz als das was wir in seiner banalen Endlosigkeit hören, was uns schaudern und nachdenken lässt.“
009. „Past Lives“ (Celine Song, 2023)
„Goldgelbe Farbtöne bestimmen die Farbpalette eines Filmes, der auch seiner Handlung nach einfach unoffensiv schön ist. So wie Celine Song drei Figuren und zwei Welten miteinander in Einklang bringt, so kommuniziert auch Shabier Kirchners zwischen der etwas steif-romantischen koreanischen Sphäre und der amerikanischen Ostküste, in der Liebe irgendwie ironisierter und indirekter zu sein scheint. Für ein Film, in dem Menschen aufeinandertreffen und miteinander reden, ist Kirchners Kamera zudem ein wahres Feuerwerk an kinematografischen Einfällen.“
008. „Disco Boy“ (Giacomo Abbruzzese, 2023)
„Manche sagen, das ist nicht Kino, sondern Musikvideo. Und wenn schon! Zweifellos bedient sich der aus dem Dokumentarfilm stammende Abbruzzese in seinem Spielfilmdebüt in Kamera, Schnitt und erzählerischer stichwort- und ausschnitsartigen Rhythmik Stilmittel des Musikvideos, die er zudem dann noch mit einem wummernden Electronica-Score unterlegt. Umso beeindruckender, dass diese Tour de Force, diese postmoderne Joseph-Conrad-Adaption, als erzählerisches Wagnis funktioniert. Franz Rogowski als Weißrusse, der sich der französischen Fremdenlegion anschließt, ist ein wandelndes Mysterium, eine Leerstelle, irgendwas zwischen Subjekt und Projektionsfläche. Wir wissen nicht so richtig, wer er ist, woher er kommt und wohin er will. Umso weiter die Handlung vorantreibt, desto mehr verschwimmt all das zu einer psychoanalytisch-mythischen Tanzeinlage. Rogowskis Figur verschwimmt mit seinem Antagonisten, einem afrikanischen Freiheitskämpfer, zu einer außer-figurativen Erscheinung, so etwas wie dem Destillat des Leids der Verdammten dieser Erde. Jetzt schon einer der besten Filme des Jahres.“
007. „The Ordinaries“ (Sophie Linnebaum, 2022)
„Dieser Film ist eminent politisch. In Zeiten, in denen es als ein bisschen chic gilt, sich gratismutig ein bisschen symbolisch auf die Seite von marginalisierten Gruppen zu stellen, ist „The Ordinaries“ tatsächlich ein Film, der rein gar nicht identitätspolitisch ist, sondern sich mit den Spielregeln eines postmodernen Klassenkampfes auseinandersetzt. Hier geht es explizit um die Frage nach diskursiver Legitmität und wie diese in einem bourdieuschen Sinne mit kulturellem Kapital verknüpft eben auch eine Klassenfrage ist. Linnenbaum findet hierfür fantastische Ausdrucksformen in ihrer Film-Welt, die zur selben Zeit Realität und analytischer Blick auf jene, zur Hälfte Dystopie und zur anderen Hälfte Farce derselben ist. Insbesondere das Drehbuch von Michael Fetter-Nathansky beeindruckt mit soziologischer Explizität einerseits und feinen Andeutungen andererseits, wo der Film selbst sonst womöglich die Grenzen des legitim Sagbaren einstürzen ließe.“
006. „Killers Of A Flower Moon“ (Martin Scorsese, 2023)
„(…) Die meisten Völkermorde vollziehen sich subtil, schleichend, nicht als Zäsur, sondern geben sich selbst bewusst den Anschein eines natürlichen Prozesses. Martin Scorsese hat diese Form des Völkermords, die an vielen Orten dieser Welt gerade ähnlich stattfindet, an einem historischen Beispiel in den USA der 1920er Jahre genial herausgearbeitet. Selbst in familiären Bunden wirkt das Ungleichsein der Völker fort und wartet auf den richtigen Augenblick, sein teuflisches Werk zu vollenden. Nebenbei ist Scorsese auch eine berührende Liebesgeschichte und ein weiterer epischer Spätwestern in seinem so reichen Schaffen gelungen.“
005. „There Is A Stone“ (Tatusnari Ota, 2022)
„Kaum Erwartungen hatte ich an diesen Film, der einem im Programmheft schon maximal trocken als ein Dauerdialog über Steine zwischen zwei Menschen an einem Flussbett erklärt wurde. Umso überraschter war ich von der großen Sinnlichkeit dieses filmischen Experiments. Klar, man kann das ultraprätentiös finden, wenn eine junge Frau einen merkwürdigen Fremden am Fluss trifft und beide fast zwei Stunden lang zusammen mit Steinen spielen, aber das Besondere hier ist, dass Tatsunari Ota diese Situation sowohl haptisch-materiell als auch inter-sozial so ernst wie irgendmöglich nimmt. Da spielen also zwei erwachsene Menschen mit Steinen, werfen sie und stapeln sie, und in der schieren Ausführlichkeit und Detailverliebtheit dieser Situation weckt der Film eine Art frühkindliche (unterdrückte) Lust am Herumtollen in der Natur im Zuschauer. Eine Lust, die bei der Protagonistin auch unterdrückt gewesen sein mag, der sie sich einen Nachmittag lang hergibt. Eine Lust, die bei dem merkwürdigem Fremden ihr gegenüber wohl nicht unterdrückt ist, frei ausgelebt wird und ihn eben dadurch zu einem Randständigem der Gesellschaft macht. Nie erfahren wir wirklich etwas Genaueres, wer die beiden Figuren genau sind, aber durch die Anteilnahme des Steinspiels bekommen wir eine konzise Ahnung. Es mag sein, dass dieser Film für ein westliches Publikum schlechter funktioniert, weil wir stärkere Vorbehalte gegenüber einer solchen Erwachsenenfigur haben, die sich in ihrer hilflosen Annäherung an die junge Frau am Rande zur Übergriffigkeit verhält. „There Is A Stone“ hält das aber aus, geht dem auf den Grund, auf eine unorthodox taktile Weise. Geduldig, ja, aber wer genau hineinspürt, merkt, dass der Takt des Films gar nicht unnötig überdehnt, sondern in Wahrheit etwas Spielfreudiges, völlig im Bann der „Natur“ (ein Flussbett mit Geröll) verlorenes hat.“
004. „The Fabelmans“ (Steven Spielberg, 2022)
„Wer mich kennt, weiß: Ich halte die überwiegenden Teile des Spielbergschen Schaffens für absolut überbewertet und kann mir seine Kanonisierung nur durch Verklärung durch kindlich-biografische Verknüpfungspunkte zahlreicher Kritiker erklären. Anders stellt sich das aber bei seinem wirklich magischen Auto-Biopic „The Fabelmans“ dar. Spielberg kostet hier wirklich Figuren und Situationen inszenatorisch aus, ist auf der Suche nach psychologischen Tiefen seiner Figuren, betrachtet sie nicht nur durch das berühmt gewordene staunende spielbergsche Kinderauge, sondern als ein erwachsener Filmemacher, dem es zudem gelingt, grandiose medienreflexive Gesten in die Geschichte einzubauen.“
003. „Sonne und Beton“ (David Wnendt, 2023)
„Die Verfilmung des gleichnamigen autobiografischen Romans des Comedians und Podcasters Felix Lobrecht ist in der Tat ein eminent politischer Film, der sich sehr genau der neoliberalismuskritischen Implikationen seiner Welt bewusst ist. „Sonne und Beton“ verzichtet dabei vollständig auf das deutsche Filmeinmaleins aus moralistischer Läuterungsdramaturgie und ideologischem Opferkitsch. Der Film ist dabei formalästhetisch geschlossen und über alle Zweifel erhaben — ein waschechter Kunstfilm im Deckmantel des Kinomainstreams. Vielleicht so etwas wie das verspätete „Kids“, das verspätete „Hass — La Haine“ des deutschen Films. Kurzum: „Sonne und Beton“ ist nichts Geringeres als eine Sensation.“
002. „Anatomy Of A Fall“ (Justine Triet, 2023)
„Zusammen mit dem brillanten Drehbuch schultert Hüllers Spiel Justine Triets Film. Das Gesicht der Hüller wird zu einer Oberfläche, die das Publikum nach Wahrheit und Lüge absucht, zweieinhalb Stunden lang, und dabei bis zum Ende nicht mit ganzer Sicherheit fündig wird. Müde, überfordert, dann wieder ganz gefasst, vielleicht auch kalküliert? Eine Topographie der Gesichtsregungen. Eine Backstory, die nur einmal in einer Rückblende sichtbar wird und sonst der Publikumsfantasie überlassen ist, schwebt immer unscharf zwischen den Zeilen des Gesagten. Dieser Fast-Monolog, diese One-Woman-Show von Sandra Hüller ist schauspieltechnisches Endgegnerkino.“
001. „About Dry Grasses“ (Nuri Bilge Ceylan, 2023)
„Im Fokus von Nuri Bilge Ceylans Drehbüchern steht die Komplexität (zwischen)menschlicher Psychologie, wie sie in der filmischen Welt wohl keine Entsprechung neben Ceylan und in der Literatur am ehesten im russischen Realismus des 19. Jahrhunderts hat. Ceylan macht überspezifische Niederungen menschlicher Existenz nachfühlbar, deutet dabei aber auch immer über die Figuren hinaus in einer erzählerischen Gemäldehaftigkeit, die gleichzeitig universell als auch gesellschaftspolitisch determiniert ist. Man kann der Größe dieser dreistündigen Erzählung von „About Dry Grasses“ kaum mit einer einzigen Sichtung gerecht werden. (…) Wie ganz wenige Regisseure der Filmgeschichte (ja, diesen Superlativ mache ich auf), schafft es Ceylan einen Sog zu entwickeln, in dem man über die Brillanz seines Stils abgewickelt, Längen und erzählerische Auswüchse nicht als Unförmigkeiten, sondern als erzählerischen Skulpturcharakter akzeptiert. „About Dry Grasses“ ist Ceylans möglicherweise reifster Film. Wir sehen hier einen großen Künstler auf dem Höhepunkt seines Schaffens.“
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