Bereits zum sechsten Jahr in Folge verleihe ich auf meinem Blog parallel zu den Oscars meine Goldenen Tellerränder, die in den verschiedenen Produktionsdepartments des Filmschaffens Werke für innovativen und besonders narrativ-funktionalen Einsatz der jeweiligen Disziplinen würdigen möchten. Zugelassen waren alle Filme, die ich letztes Jahr gesehen habe und zwischen 2018 und 2020 erschienen sind.
Best Make Up And Hairstyling • „Uncut Gems“ (Ben & Joshua Safdie, 2019) • „DAU. Degeneration“ (Ilya Khrzhanovsky, 2020) • „I’m No Longer Here“ (Fernando Frias, 2019) • „J’accuse“ (Roman Polański, 2018) • „The Trouble With Being Born“ (Sandra Wollner, 2020)
And the winner is ...
„The Trouble With Being Born“ (Sandra Wollner, 2020)
Make-Up und Hairstyling hat in Sandra Wollners Film über potenzielle Nutzungsgebiete von künstlicher Intelligenz und Körperlichkeit nicht nur eine ästhetische, sondern auch zensurale Implikation. Die aufwendige Maske hat nicht nur die Absicht dem kleinen Cyborg ein glatteres, entseelteres Antlitz zu verpassen, sondern auch der jungen Schauspielerin, Lena Watson, durch optische Verzerrung auch eine Distanz zur Rolle, die u.A. das pikante Thema Pädophilie aufgreift, zu geben.
„The Lost Okoroshi“ von Abba Makama ist ein Choc trashiger Nollywood-Ästhetik mit dem dramaturgischen Gewissen eines Arthouse-Films. Der Okoroshi selbst, eine nigerianische Geisterfigur, wird lediglich durch das quietschlila Kostüm repräsentiert, der Okoroshi hat keine Stimme. Seine Präsenz, an der sich der ganze Mikrokosmos des Films aufreibt, ist das Kostüm.
Für das monumentale Kunstprojekt, „DAU.“, dessen Kernstück „Degeneration“ ist, wurde ein eigenes Forschungsinstitutgelände errichtet. Orientiert an stalinistischer Architektur der 50er-Jahre, aber auch hin und wieder mit Elementen eines gewissen kommunismo-futuristischen Okkultismus, ist die Spielbühne dieses dunklen Sensationsfilms im wahrsten Sinne ein Erlebnispark. Eine wohl unwiederholbare Leistung des Production Designs.
Im wohl stärksten Score-/OST-Jahrgang aller Zeiten war die Entscheidung keine leichte. Letztendlich führt aber wohl an „The Disciple“ noch am wenigsten ein Weg vorbei. Chaitanya Tamhane schafft mit seinem zweiten Spielfilm etwas Bemerkenswertes: Wie ein spirituelles Wesen scheint sich der Film in Indiens klassische Musik hineinzumeditieren, alles andere scheint ihm unwichtig. Selten war Musik so zentral. Als Europäer, der hier unter Umständen die erste Begegnung mit dieser Musik überhaupt vollzieht, fühlt sich einerseits permanent extra muros wie ein Außerirdischer. Und andererseits versteht er doch alles, denn „The Disciple“ wird in seiner Überspezifikation auch zu einer allgemeingültigen Erfahrung von Nerdtum, von Leidenschaft.
„Vitalina Varela“ zu schauen ist das Betreten eines Kosmos, der audiovisuell nach anderen Gesetzlichkeiten funktioniert. Einen erheblichen Anteil machen hier Geräusche oder genauer: ihre Proportionen. Laute Naturgewalt, laute Maschinengewalt, sehr viel Stille, feine Hintergrundgeräusche, gebetartiges Flüstern. Ein Erlebnis.
„My Thoughts Are Silent“ besetzt für sich eine im Film oft übersehende Meta-Ebene: Den Apparatus der Ton-Aufnahme. Lukichs Debüt handelt von einem jungen Mann, der Ton-Exempel ukrainischer Tiere ins Ausland verkauft, weil diese angeblich trauriger als im Westen klängen. So verdient sich der Einsatz von Tier- (und anderen) -geräuschen einen erzählerischen Funktionswert.
Best Special / Visual Effects • „We Are Little Zombies“ (Makoto Nagahisa, 2019) • „Tenet“ (Christopher Nolan, 2020) • „Da 5 Bloods“ (Spike Lee, 2020) • „Ema“ (Pablo Larraín, 2019) • „Violence Voyager“ (Ujicha, 2018)
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„Violence Voyager“ (Ujicha, 2018)
„Violence Voyager“ bezieht seine ganz eigentümliche Wirkung wesentlich aus der prima facie gegensätzlichen Verquickung einer grobschlächtigen Zeichentechnik und sehr physischen Effekten. Alle Wooshs, Slssshs und Bams, vor allem aber alle körperlichen Flüssigkeiten, sind für „Violence Voyager“ videografisch aufgenommen und in den Animationscharakter des Films rückgebunden worden. Daraus ergeben sich einige unvergessliche Schock-Momente, die mit dem Schrecken des Echten inmitten des Falschen arbeiten.
Best Film Editing • „DAU. Degeneration“ (Ilya Khrzhanovsky, 2020) • „We Are Little Zombies“ (Makoto Nagahisa, 2019) • „Shirley“ (Josephine Decker, 2020) • „We The Animals“ (Jeremiah Zagar, 2018) • „The Lost Okoroshi“ (Abba Makama, 2019)
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„DAU. Degeneration“ (Ilya Khrzhanovsky, 2020)
Im „DAU.“-Projekt geht es editorisch sicherlich weniger um wahnsinnige Rhythmus-Experimente, sondern um dramaturgische Selektion. Genauer ist die reine Existenz der Filme nur durch einen genuin editorischen Auswahlprozess überhaupt möglich geworden. Aus einem immensen Pool von Material (man hört und liest von 700 Stunden) wurde gerade mit dem Kernwerk „DAU. Degeneration“ ein Opus zusammengesetzt, das — wäre es geschrieben — jeden Drehbuchautoren in Ehrfurcht versetzt hätte. Der Schreibprozess wurde hier gewissermaßen im Schnittraum nachgetragen. Vielleicht war Editing noch nie zuvor so dramaturgisch wie bei „DAU. Degeneration„.
Best Documentary Feature • „Tiger King: Murder, Mayhem and Madness“ (Rebecca Chaiklin, Eric Goode, 2020) • „Welcome To Chechnya“ (David France, 2020) • „I Am Greta“ (Nathan Grossman, 2020) • „Lord Of The Toys“ (Pablo Ben Yakov, 2018) • „Uppercase Print“ (Radu Jude, 2020)
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„Lord Of The Toys“ (Pablo Ben Yakov, 2018)
„Lord Of The Toys“ sorgte 2018 für Aufsehen, weil er unkommentiert postpubertäre YouTuber aus der rechten Szene porträtierte. Der Shitstorm, bishin zum Boykottaufruf, um den Film sagt mehr über die Lage der Diskussionskultur als über die tatsächliche Qualität des Films aus. Eine präzise Beobachtung der unrepräsentierten „Idioten der Gesellschaft“ wirft als Zeitdokument wichtige Einblicke in die Lage der Nation. Wer den Rechtsruck in Deutschland verstehen will, muss in Kauf nehmen, dass eine Präsentationsform derjenigen nicht immer mit verächtlichem Disclaimer versehen muss. Die Wahrheit kommt hier im Ekel der gemixten Bockwürste zum Vorschein, als Suche nach Identität.
Best English Language Feature • „Little Joe“ (Jessica Hausner, 2019) • „Never Rarely Sometimes Always“ (Eliza Hittman, 2020) • „First Cow“ (Kelly Reichardt, 2020) • „Dark Waters“ (Todd Haynes, 2019) • „Waves“ (Trey Edward Shults, 2019)
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„Never Rarely Sometimes Always“ (Eliza Hittman, 2020)
Mit „Never Rarely Sometimes Always“ hat Eliza Hittman Weiblichkeit als körperliche Odyssee erzählt. Die Körperlichkeit des Films kommt über haptische Genauigkeit, das Ernstnehmen des Kleinkleins. Statt kopfgebundene Statementpolitik zu betreiben, nimmt uns Hittman auf eine empathische Reise mit. Eine Reise namens Weiblichkeit.
Best Debut Feature • „Bait“ (Mark Jenkin, 2020) • „My Thoughts Are Silent“ (Antonio Lukich, 2019) •„Summer Survivors“ (Marija Kavtaradze, 2018) • „Song Without A Name“ (Melina León, 2019) • „Dwelling In The Fuchun Mountains“ (Xiaogang Gu, 2019)
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„Dwelling In The Fuchun Mountains“ (Xiaogang Gu, 2019)
Weitestgehend unbemerkt, in Cannes‘ Semaine de la Critique, lief 2019 der erste Spielfilm von Xiaogang Gu, einem weiteren chinesischen Regie-Juwel Anfang 30. Mit „Dwelling In The Fuchun Mountains“ legt er gleich mal einen der besten Filme des Jahres vor. Das zweieinhalbstündige Gesellschafts- und Stadtporträt einer chinesischen „Kleinstadt“ ist der Auftakt einer dreiteiligen Reihe, in der Handlungsstränge wie Flussarme mäandern.
Historienfilme sind häufig gefangen in einer verspießten Ernsthaftigkeit, gespeist aus vermeintlicher historischer Genauigkeit und lustfeindlicher, da häufig ideologischer, Konzentration auf eine politische Gegenwartsgehalt des Vergangenen. Kelly Reichardt pfeift darauf. Gewissermaßen in der Tradition großer Literaten wie Gustave Flaubert ist „First Cow“ eine sehr witzige, bisweilen alberne Kurzgeschichte über Freundschaft und Fettgebäck. Ihr zurückgenommener Sil eines an richtigen Stellen überhöhtem Realismus entspricht tatsächlich sehr genau einer Grammatik schelmenhafter Kurzprosa und transzendiert die Geschichte amerikanischen Frühkapitalismus somit, statt sie nur sklavisch wiederzugeben.
Best Original Screenplay • „Little Joe“ (Jessica Hausner, 2019) • „Dear Comrades!“ (Andrei Konchalovsky, 2020) • „The Trouble With Being Born“ (Sarah Wollner, 2020) • „Conference“ (Ivan I. Tverdovskiy, 2020) • „Never Rarely Sometimes Always“ (Eliza Hittman, 2020)
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„Dear Comrades!“ (Andrei Konchalovsky, 2020)
Mit „Dear Comrades!“ gelingt Andrei Konchalovsky eine der komplexesten Betrachtungen des Realsozialismusses im Allgemeinen und der Post-Stalin-Ära im Speziellen. Der Sozialismus wird nicht als das per se Monströse angenommen, sondern aus seinem ideologischen Selbstverständnis als humanistische Arbeiterbewegung ernstgenommen. Mit dem historischen Fall des Aufstands in Nowotscherkassk, dem ein Arbeiterstreik vorausging, wird der Sozialismus vor dem Hintergrund seines größten Widerspruchs diskutiert. Sozialisten werden nicht als sadistische Unmenschen (wie in vielen westlichen Filmen) dargestellt, sondern vor allem als Überforderte. Aber hier fängt der Film erst an. In der Gegenüberstellung einer stalintreuen Hauptfigur mit der khrushchevschen Nachfolgegeneration philosophiert Konchalovsky innerhalb eines schweiß- und tränentreibenden Familiendrama-Politthrillers darüber, wie echtes menschliches Zusammenkommen möglich sei: im differenzierten Blick.
Best Cinematography • „DAU. Degeneration“ (Ilya Khrzhanovsky, 2020) • „Vitalina Varela“ (Pedro Costa, 2019) • „Fire Will Come“ (Oliver Laxe, 2019) • „Waves“ (Trey Edward Shults, 2019) • „Dwelling In The Fuchun Mountains“ (Xiaogang Gu, 2019)
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„Vitalina Varela“ (Pedro Costa, 2019)
In „Vitalina Varela“ scheint es immer nachts zu sein. Was Pedro Costa und sein Kameramann Leonardo Simões hier auf die Leinwand malen, ist derart auf die Spitze getriebene Low-Key-Fotografie, dass die Schwärze des Films (der Nacht) mit dem Dunkel des Vorführraums verschmilzen scheint, diesen erweitert, neue (nicht immer rechteckige) Formen der Leinwand erzeugt. Eine eigentümliche, aus der Welt gefallene Bildgestaltung, die diesem eigentümlichen, aus der Welt gefallenen Film damit ergebener und gleichermaßen emanzipierter Untertan ist.
Best Casting Director • „Never Rarely Sometimes Always“ (Eliza Hittman, 2020) • „DAU. Degeneration“ (Ilya Khrzhanovsky, 2020) • „I’m No Longer Here“ (Fernando Frias, 2019) • „Sorry, We Missed You“ (Ken Loach, 2019) • „Fire Will Come“ (Oliver Laxe, 2019)
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„I’m No Longer Here“ (Fernando Frias, 2019)
„I’m No Longer Here“ nimmt uns nicht wirklich mit, richtiger wäre es zu sagen: Es toleriert unseren Blick. Dramaturgische Zugeständnisse, großartige Publikumtutorials in die Welt der Cumbia-Musik oder auch nur ein tieferer Blick in die eigene verschlossene Hauptfigur Ulisses verwehrt Regisseur Fernando Frias. Dass hieraus Attraktion entsteht, die sogar Netflix seinem Publikum zutraut, liegt vor allem an der Zusammenstellung des großartigen Laien-Casts zwischen Monterrey und New York. Dabei statt nur mittendrin.
Best Supporting Actress • Talia Ryder („Never Rarely Sometimes Always“ ) • Xueming Angelina Chen („I’m No Longer Here“) • Norma Kuhling („Fourteen“) • Taylor Russell („Waves“) • Nana Komatsu („Farewell Song“)
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Norma Kuhling („Fourteen“)
Dan Sallitts „Fourteen“ ist ein Film über Freundschaft ohne romantische Verklärungen. Freundschaft ist hier auch Eifersucht, Manipulation, Ausnutzung, Verdruss, Erwartungsenttäuschung und Ungleichzeitigkeit des Erwachsenwerdens. Norma Kuhling mimt eine Freundin, wie wir sie alle kennen und/oder selbst sind. Die charismatische, coole und sexye Projektionsfläche, hinter der aber eigentlich ein hilfloses Kind steckt, unfähig erwachsen zu werden und in gewisser Weise, ja, auch narzisstisch und missbräuchlich, ohne das über sich selbst zu wissen. Warum können wir nicht wieder jugendlich sein?
Best Supporting Actor • Șerban Pavlu („Monsters.“) • Paulius Markevicius („Summer Survivors“) • Raúl Castillo („We The Animals“) • Dmitry Kaledin („DAU. Degeneration„) • Vladimir Azhippo („DAU. Degeneration„)
Im Gegensatz zu den Academy Awards haben die Goldenen Tellerränder natürlich keine Funktion einer sozialen Gemeinschaft, wodurch posthume Auszeichnungen auch keinen Nachruf auf ein Gesamtwerk oder eine Privatperson sein können. Vladimir Azhippo hat ein solches Gesamtwerk ohnehin nicht, jedenfalls nicht im Schauspiel. Auch über ihn als Privatperson weiß man wenig. Vladimir Azhippo war, so viel ist bekannt, KGB-Agent und wird in Ilya Khrzhanovskys Mammutwerk „DAU. Degeneration“ auch als ein solcher besetzt. So verschwimmen natürlich auf schwindelerregende Weise die Grenzen zwischen Schauspiel und reinem Sein, wenn Azhippo z.B. über Gewaltanwendung innerhalb seines Berufsstandes spricht. In einer Szene, analysiert ihn ein amerikanischer Psychologe, als jemand der „auf beiden Seiten der Gefängnismauer“ stehen könnte. Azhippo hat sichtlich Freude an dieser Unterhaltung, nickt interessiert, lächelt, spielt mit. Vielleicht auch deswegen, weil er in diesem Moment das erste Mal als Mensch wahrgenommen wird, weil er auf der anderen Seite sitzt, nicht der Verhörer, der penetrierende Akteur, sondern ein passives Analyseobjekt ist. Der faszinierendste Moment des Kinojahres, dessen letztliches Geheimnis Vladimir Azhippo mit in sein Grab nimmt.
Best Actress • Sidney Flanigan („Never Rarely Sometimes Always“ ) • Ricarda Seifried („Wintermärchen“) • Tallie Medel („Fourteen“) • Yuliya Vysotskaya („Dear Comrades!“) • Yukino Kishii („What Is Love?“)
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Yukino Kishii („What Is Love?“)
„What Is Love?“ ist auf den ersten Blick ein Liebesfilm. Auf den zweiten Blick zwar auch, aber nicht im herkömmlichen Sinne, sondern eher als eine Analyse moderner Liebessemantik (in Japan) und missbräuchlichen Verhaltens. Kongenial hierfür ist die Figur der Teruko bzw. Yukino Kishiis Interpretation dieser. Teruko ist nämlich eine Figur, die eine seltene Ansammlung positiver Attribute versammelt: hübsch, nicht-zu-hübsch, süß, cool, herzallerliebst, selbstbewusst, vor allem aber: aufrichtig. Ihr männlicher Gegenpart verhält sich ihr gegenüber nicht einmal unsensibel und doch nutzt er ihre Aufrichtigkeit aus, indem er permanent Dinge im Vagen behält. Kishis ganz eigener, würdevoller Umgang mit dieser hochkomplexen Zweisamkeit macht „What Is Love?“ zu so einer aufregenden Erfahrung.
Best Actor • Amador Arias Mon („Fire Will Come“) • Vincent Lindon („At War“) • Cristian Popa („Monsters.“) • Miguel Lobo Antunes („Technoboss“) • Mads Mikkelsen („Another Round„)
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Amador Arias Mon („Fire Will Come“)
„Fire Will Come“ ist ein symbolistisches Film-Poem wie aus einem Guss. Unsere Hauptfigur, gespielt von Amador Arias Mon, ist ein schweigsamer, merkwürdiger Mann mit gewissen Neigungen. Wir erfahren, dass er Pyromane ist. In diese Obsession blicken wir aber nie hinein. Wir bleiben an der fein beobachten Oberfläche eines Menschen, der versucht, sich neu zu orientieren und zu organisieren. Dabei ist Amador Arias Mons Gesicht, in dem Leid und Zweifel eingeschrieben scheint, wie ein uraltes Artefakt, das Regisseur Oliver Laxe, zärtlich umkreist, ohne es anzufassen.
Best Director • Eliza Hittman für („Never Rarely Sometimes Always“ ) • Cristi Puiu für („Malmkrog“) • Ilya Khrzhanovsky für („DAU. Degeneration„) • Andrei Konchalovsky für („Dear Comrades!“) • Ivan I. Tverdovskiy für („Conference“)
Eliza Hittman schafft es in ihrem bislang besten Film „Never Rarely Sometimes Always“ rein durch eine sehr physische, sehr nahe, sehr am Kleinen, Organisatorischen und Profanen interessierten Inszenierung eines New-York-Trips weibliche Körperlichkeit erfahrbar zu machen. Das Medium Film in seinem humanistischen Potenzial als empathische Vermittler auszureizen und somit das Immer-schon-gewusste auch endlich zu einem eigenen Schmerz zu machen. So sehr wie viele feministische Filme „nur von Frauen verstanden werden können“, beweist „Never Rarely Sometimes Always“ das Gegenteil und gleichermaßen, wie sehr das mit dem Beherrschen des filmischen Handwerks zu tun hat.
Best Picture • „Never Rarely Sometimes Always“ (Eliza Hittman, 2020) • „DAU. Degeneration“ (Ilya Khrzhanovsky, 2020) • „I’m No Longer Here“ (Fernando Frias, 2019) • „Fire Will Come“ (Oliver Laxe, 2019) • „Dear Comrades!“ (Andrei Konchalovsky, 2020) • „Conference“ (Ivan I. Tverdovskiy, 2020) • „To The Ends Of The Earth“ (Kiyoshi Kurosawa, 2019) • „Dwelling In The Fuchun Mountains“ (Xiaogang Gu, 2019) • „What Is Love?“ (Rikiya Imaizumi, 2018) • „First Cow“ (Kelly Reichardt, 2019)
Ein Kunstprojekt wie „DAU.“ wird es wohl nicht noch einmal geben. Viel Geld wurde investiert, viele große Namen haben sich begeistert mit diesem Projekt verknüpft, bis es schließlich in den Diskursen unserer Zeit angekommen nur noch etwas zu sein schien, das man mit möglichst großer Feindlichkeit begegnen möchte. Oder mehr noch: Das man mit größtmöglicher Nicht-Beachtung abstrafen wollte. Das Unkontrollierbare, das Megalomane, das bedingungslos Düstere war schon immer ein Mittel zur Provokation. Nur Provokation scheint in der gegenwärtigen Kulturindustrie keine positive Konnotation mehr zu haben. Vereindeutigung und Affirmation der eigenen Denkblase sind die neuen Ideale. Was wird man sich schämen, dieser brillanten künstlerischen Arbeit, die auf ihre beeindruckende Weise zum Öffnen von Diskussions- und Denkräume sich eigne, mit dieser Ignoranz begegnet zu haben? Was wird man sich schämen, wenn man „DAU. Degeneration“ in Jahrzehnten ausgraben wird, wie Kalatozovs „Soy Cuba“ in den 1990er Jahren, als Werk, das in der falschen Zeit geboren wurde. Brillante Kunst wird ihren Weg finden.
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