
Weibliche Odyssee oder: Der Humanismus des filmischen Realismus.
Originaltitel: Never Rarely Sometimes Always
Alternativtitel: Niemals Selten Manchmal Immer
Produktionsland: USA
Veröffentlichungsjahr: 2020
Regie: Eliza Hittman
Drehbuch: Eliza Hittman
Bildgestaltung: Hélène Louvart
Produktion: Lia Buman, Rose Garnett, Tim Headington, Sara Murphy, Alex Orlovsky, Elika Portnoy, Adele Romanski
Montage: Scott Cummings
Darsteller: Sidney Flanigan, Talia Ryder, Ryan Eggold, Thédore Pellerin, Drew Seltzer, Sharon Van Etten
Laufzeit: 102 Minuten
Autumn (Sidney Flanigan) ist 17 Jahre alt und lebt im ländlichen Pennsylvania. Ihr Leben als Supermarkt-Kassiererin hält eigentlich keine Überraschungen bereit. Doch dann wird sie ungewollt schwanger und erkennt sofort: Ihren Eltern kann sie sich damit nicht anvertrauen. Erst recht nicht, wenn sie plant, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Hilfe findet Autumn stattdessen bei ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder), die ihr nicht nur mit Geld sondern auch mit ihrer Begleitung zur Seite steht, als Autumn sich mit dem Bus auf die Reise nach New York City macht. Als Anhaltspunkt für medizinische Versorgung haben die zwei dabei nur eine Klinik-Adresse, die jungen Mädchen als Anlaufstelle dient. Der Weg nach New York wird für die zwei Mädchen zu einer Unternehmung, die Mut, Zusammenhalt und Empathie erfordert, damit Autumn die Entscheidungsgewalt über ihren Körper und ihre Seele behalten kann.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Es wird viel geredet, in diesen Zeiten, über die weibliche Lebensrealität. Es werden, wenn wir ehrlich sind, auch sehr viele Filme darüber gemacht. Nur fühlen sich viele dieser Filme wie Belehrnisse an und werden von Kulturinstitutionen für ihre reine Absichten gefeiert und gefördert. Kunst wird letztendlich wieder dafür belohnt, am eindeutigsten zu sein und am lautesten eine immer-gleiche Fahne hochzuhalten. Das tut beidem unrecht: Sowohl dem Medium Film, als auch einer filmaktivistischen Programmatik, die in meinen Augen nur dann legitim ist, wenn sie sich auch mit einer eigenen Filmsprache verbindet, in der gleichermaßen Varianz und Devianz vorkommen. Das Gefühl belehrt zu werden indes, ist das Gegenteil von Empathie, welche wiederum notwendig ist, um in einer nicht-ohnehin-schon-betroffenen Publikumsgruppe etwas auszulösen. Eliza Hittmans neuester Film „Never Rarely Sometimes Always“ ist ein großer Wurf, für die eine Kritik des reinen Belehrnis ausdrücklich nicht gilt. Eben weil die gute Absicht des Films nicht eine argumentativ unhintergehbare Behauptung bleibt, sondern als Katharsis auch bei denen (z.B. bei mir) funktioniert, die von der weiblichen Lebensrealität nicht betroffen sind. Und es lohnt sich, ganz genau hinzusehen, auf welche Weise Eliza Hittman das gelingt.

Weiblichkeit als Odyssee
„Never Rarely Sometimes Always“ erzählt Weiblichkeit als Odyssee und (körperliche) Passionsgeschichte. Autumn, unsere Protagonistin, wird ungewollt schwanger und möchte eine Abtreibung. Die ist in ihrem Bundesstaat aber illegal, was sie und ihre Cousine zu einem „Ausflug“ nach New York City bewegt, um dort heimlich den Schwangerschaftsabbruch zu vollziehen. Symbolisch ist das natürlich eine Miniaturform der Landflucht, also dem Wegzug vom konservativen Dorf in die Großstadt als ein prominentes Phänomen unserer Zeit und häufiges Element progressiver Erzählungen (z.B. „Mustang„). In „Never Rarely Sometimes Always“ endet mit dem Besuch in New York City allerdings keineswegs das Leid, sondern es transformiert sich lediglich in neue Formen. Autumn begegnet hier Spannern in der U-Bahn — also das urbane Phänomen einer anonymisierten Form sexueller Gewalt — und was eigentlich noch viel spannender ist: Einen modernen jungen Mann, der trotz Respekt (und vielleicht sogar Verliebtheit) der Frauenfigur gegenüber, auf unpässliche Weise in weibliche Lebensrealität eingreift. Das urbane Leben wird hier bei weitem nicht so naiv und verächtlich gegen das Dorfleben ausgespielt wie in vielen anderen Filmen. Es ist Teil derselben Lebensrealität, die Hittman kongenial als körperliche Erfahrung erzählt.
Materielle Genauigkeit als Katalysator
„Never Rarely Sometimes Always“ ist ein physischer, ja ein geradewegs haptischer Film. Schon in der Exposition, die im Großen und Ganzen aus der Erkenntnis über die eigene ungewollte Schwangerschaft und das Schmieden eines Abtreibungsplans besteht, setzt Hittman immer wieder Momente ein, die beim bloßen Hinsehen Schmerz evozieren, etwa wenn sich Autumn gegen den Bauch schlägt oder sich mit einer am Gasherd erhitzten Büroklammer ein Piercing-Loch in die Nase treibt. Hittman erzählt streng linear und mit derselben bedingungslosen Nähe zur Hauptfigur wie man es von ihren bisherigen großartigen Regie-Arbeiten („It Felt Like Love“, „Beach Rats“) bereits kennt. Erst wenn Autumn und ihre Cousine zum NYC-Trip ansetzen, enthüllt sich aber die eigentliche Strategie des Films: Es ist sein absolutes Ernstnehmen kleinster Details (Recherche, Geldklauen, Sachen packen, Musik im Bus hören, Bus-Umstieg usw.), die ungefilterte, fühlbare Echtheit erzeugen. Vieles hätte man elliptisch überspringen können, aber durch das Auserzählen verringert Hittman die Distanz zwischen Zuschaueralltäglichkeit und filmischer Narration, was sich als atmosphärischer Katalysator erweist. Diese materielle Genauigkeit behält der Film auch dann noch bei, wenn die Handlung sich langsam zuzieht, schwerer und existenzieller wird. Frausein, zumal eine schwangere, wird hier als Akt ständiger Last und völliger Erschöpfung erzählt, in der es dann eben manchmal unangebracht ist, auch nur beim friedvollen Musikhören zu stören; selbst dann wenn es der junge Mann eigentlich lieb gemeint hat.

Symbolische Miniaturen
Auf ebenjene Männerfigur möchte ich an dieser Stelle noch weiter eingehen. Hittman hat bereits mit dem Casting des schönen und sympathischen Théodore Pellerin eine Wahl getroffen, die Männlichkeit nicht zum Abschuss freigeben soll, sondern sie in aller Ernsthaftigkeit diskutieren will. Diese Männerfigur, Jaspar, verhält sich nicht wie ein Scheusal. Hittman fabuliert hier keine bösartige männliche Energie, die damit das weibliche Leid dem Publikum plakativ audrängen soll (und damit jegliche Form von Identifikation entgegenwirken würde!), sondern Jaspar ist eben einfach interessiert an Autumns schöner Cousine Skylar und er übertritt dabei leichte Grenzen, weil er sie als Teil eines Spiels versteht (und Skylar dieses Spiel auch durchaus bestätigt!). Jaspar ist aufmerksam, hilfsbereit, nur eben ein wenig aufdringlicher als es in der Situation angebracht wäre. Themen wie weibliche Solidarität oder auch materielle Abhängigkeit vom männlichen Geschlecht (die beiden müssen sich Geld leihen und somit die Erwartungen des Flirts unfreiwilligerweise unterfüttern) werden hier in ebenso präzise symbolische Miniaturformen gepresst, wie es eben der New-York-Trip als Ganzes auch schon ist. Wie Hittman ihre zwei Mädchen und den Jaspar gegen einander ausspielt, jede Position emotional verständlich macht, ohne irgendeine Diskursposition unfair oder verzerrt dazustellen, ist eine dramatische Meisterleistung, die in ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit gar nicht groß auffällt.
Der Humanismus eines filmischen Realismus
Die Handlung von „Never Rarely Sometimes Always“ haben wir so oder so ähnlich schon etliche Male gesehen und noch häufiger gehört oder gelesen. Wohl jeder Mensch hat schon einmal mit einer Frau darüber ein aufmerksames Gespräch geführt, was es als Frau bedeutet, einen Raum oder einen U-Bahn-Wagon zu betreten; einem aufdringlichen Gegenüber signalisieren zu müssen, dass man kein Interesse an ihm hat; wie es ist, Angst davor zu haben, schwanger zu werden; oder wie traumatisierend Abtreibungen sein können, zumal wenn illegal. Aber verstehen ist etwas anderes als empathisch nachzuvollziehen. Zu-verstehen-geben ist einfach, aber dazu bedarf es keinen Film, sondern ein Zeitungsartikel oder eine Flugschrift. Empathischer Nachvollzug ist die effektivere und gleichzeitig ungleich schwierigere Leistung, für die das Medium Film ja da ist, für das es handwerkliche Formen finden und diese zur Meisterschaft treiben muss. Ein (realistischer) Film ist nicht vorrangig rhetorisch strukturiert, sondern löst eine emotionale Reaktion durch Beobachtung aus, die der Film aus mehr oder weniger neutraler Perspektive1 ermöglicht. Darin liegt das humanistische Potenzial des Mediums Film begründet. Wir beobachten Figuren bei ihrem Sein aus einer unbeteiligten Warte und können nicht in sie hineinsehen (wie etwa beim Ich-Erzähler in der Literatur). Im realistischen Film löst rein die Beobachtung empathische Teilhabe aus und somit ein perzeptiver Modus, der uns im alltäglichen Leben prinzipiell ebenso zugänglich ist2 . Um den Film als humanistisches Medium zu begreifen, muss man allerdings hier die Annahme bejahen, dass uns als Menschen mehr eint als trennt und dass — wenn auch nur für einen Moment und annäherungsweise — Empathie ermöglicht, die Grenzen individueller Erfahrung zu sprengen; für einen Moment tatsächlich qua Identifikation eine Ahnung davon bekommen zu können, wie man sich etwa als Schwarzer, Homosexueller oder eben als Frau fühlt. Gegenwärtige identitätspolitische Tendenzen tun sich mit diesem Humanismus schwer und propagieren stattdessen einen diametralen Hyper-Individualismus, der Erfahrung als derart individuell versteht, dass es Menschen außerhalb der jeweiligen Lebensrealität (Individuum, Identitätsgruppe) völlig unmöglich sei, bestimmte Erfahrungen nachzuvollziehen. Wenn man die Unterschiede der Menschen also mehr betont als die Gemeinsamkeiten, kann man man mit meiner Prämisse nichts anfangen. Aber was will man sich dann eigentlich genau vom Kino als moralischer Schaubühne erhoffen?

Hittmans subjektiver Realismus
Wie ich versucht habe, zu zeigen, leisten Eliza Hittmans Film im Allgemeinen und „Never Rarely Sometimes Always“ im Speziellen genau dies. Sie vermitteln durch eine simple, aber angemessene narrative Strategie und eine meisterlich beherrschte, funktionale Form, den Funken der Empathie auf jede Zuschauerin und eben auch jeden Zuschauer überspringen zu lassen. Man könnte bei Hittmans Filmen von einer Art subjektivem (aber nicht subjektivistischen!) Realismus sprechen. Realistisch deswegen, weil Hittmans Perspektive immer eine beobachtende bleibt. Ihre Figuren sind letztlich Oberflächen. Schon gar nicht werden wir mit unfilmischen Stilmitteln wie Voice-Overs behelligt, aber selbst noch die gesprochene Dialogzeile ist immer auf das Wesentlichste verknappt. Es gibt auf mikro-dramaturgischer Ebene wenig Spielerisches; kaum Bündnisse, die mit dem Publikum eingegangen werden. Keine Insider, Running Gags, keine Szenen, die nur dem Effekt dienen. Hittmans Figuren scheinen auch nur so viel zu sprechen, wie sie eben müssen. Auf der Ebene des Wissens werden wir auf Distanz gehalten. Die Ellipse wagt es ganze Backstorys wegzuschneiden. Wir erfahren in „Never Rarely Sometimes Always“ nicht einmal, wer der Vater des Kindes ist, aber darum geht es ja auch gar nicht. Sondern nur um den Umgang damit. Subjektiv ist Hittmans Realismus vor allem auf der Bildebene, auf der auch das „Lustfeindliche“ der Dialoge sozusagen aufgeholt wird. Die Kamera ist immer in maximaler Nähe zu der Hauptfigur, untersucht ihr Gesicht, ihre kleinsten Regungen, hüllt es in warme, spannende Farben, taucht es ins Unscharfe. Die Oberflächen bleiben Oberflächen, aber deren Beobachtung selbst sprüht voller Lust. Die Fensterscheibe, in der sich eine Farbsilhouette des Figurengesichts spiegelt, ist ein typisches Eliza-Hittman-Bild. Auf der Ebene des Fühlens wird die Nähe gesucht. Figuren sollen trotz dem bloßen, unverfälschten Beobachten mehr nachempfunden als verstanden werden. So ist es auch die namensgebende Szene, in der Autumn nach ihrer sexuellen Vergangenheit gefragt wird und nur die drei Antwortmöglichkeiten „Never“, „Rarely“, „Sometimes“ und „Always“ hat, etwas, das den Zugang zur Backstory auf inhaltlicher Ebene verschlossen belässt und dennoch alles spürbar macht.
Bildrechte aller verlinkten Grafiken: © BBC Films / Cinereach / Mutressa Movies / PASTEL / Rooftop Films / Tango Entertainment
- Umso mehr ein Film, sich als Vertreter des Realismus versteht, desto mehr kann man mutmaßen, dass er eine neutral zu beobachtende Oberfläche sein möchte, bei dem nur die Auswahl der Handlung eine tendenziöse Setzung darstellt. Die Steigerung dieser „realistischen Neutralität“ stellt natürlich die (in Wahrheit auch nie zu 100% herstellbare) Reinform eines Dokumentarfilms dar. [↩]
- Natürlich ist der (realistische) Spielfilm dazu da, die Alltagsbeobachtung zu verdichten, zu selektieren und zu präzisieren. Der Realismus hat also die Absicht, etwas „über die Realität“ auszusagen. Und zwar ökonomischer (kürzer, prägnanter, intensiver) als es eine Alltagsbeobachtung könnte. Zum Realismus als Methode auch Bernd Stegemann, „Lob des Realismus“, S. 53 bezogen auf die Realismus-Definition bei Bertolt Brecht: „Realismus als Methode bedeutet also nicht einfach, dass etwas so aussieht wie in der Realität oder dass Elemente aus der Realität importiert werden, sondern als Methode bedeutet Realismus, dass durch eine erkennbare Perspektive die Realität sichtbarer wird. (…) Im Realismus wird ein Verhältnis zwischen Realität und Kunst durch das Kunstwerk geschaffen. Hierbei wird im Werk ein Verhältnis von Fremdreferenz und Selbstreferenz produziert. Mit Fremdreferenz ist derjenige Anteil gemeint, der sich dem Aspekt der Darstellung verschreibt. Und mit Selbstreferenz diejenigen Anteile, die sich auf die Mittel des Ausdrucks beziehen„ [↩]
2 thoughts on “Never Rarely Sometimes Always (mediumshot)”