Eine Abrechnung mit Selbstjustiz und Gewaltspiralen.
Originaltitel: Irréversible
Alternativtitel: Irreversibel
Produktionsland: Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 2002
Regie: Gaspar Noé
Drehbuch: Gaspar Noé
Produktion: Christophe Rossignon
Kamera: Benoît Debie
Montage: Gaspar Noé
Musik: Thomas Bangalter
Darsteller: Monia Bellucci, Vincent Cassel, Albert Dupontel, Jo Prestia, Philippe Nahon, Stéphane Drouot, Jean-Louis Costes
Laufzeit: 97 Minuten
Irreversibel. Weil die Zeit alles zerstört. Weil bestimmte Taten nicht gut zu machen sind. Weil der Mensch ein Tier ist. Weil der Wunsch nach Rache ein natürlicher Impuls ist. Weil die meisten Verbrechen nicht bestraft werden. Weil der Verlust eines geliebten Menschen einen trifft wie ein Blitz. Weil die Liebe der Ursprung des Lebens ist. Weil Vorahnungen den Lauf der Dinge nicht ändern. Weil die Zeit alles aufdeckt. Das Schlimmste und das Beste. Alex wird auf dem Heimweg von einer Party brutal vergewaltigt und misshandelt. Sie ist alleine nachhause gegangen ohne ihren Freund Marcus, von dem sie ein Kind erwartet und der nicht in der Lage ist, die zarten Gefühle, die zwischen ihnen bestehen, zuzulassen. Ohne Pierre auch, ihren Ex-Freund, der sie noch immer liebt. Was folgt, ist eine Jagd von Marcus und Pierre, getrieben von Verzweiflung und blinder Rache […]
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 10.11.2013)
Gaspar Noés Meilenstein „Irreversibel“ wurde von der Kritik zwiespältig aufgenommen und von seinen Befürwortern auch eher moderat gelobt. Auch im Cannes-Festival 2002, wo „Irreversibel“ zu den Aufregern gehörte, ging Noés Film leer aus. Seine Wertschätzung bekam er aber später von einer jungen Hobby-Filmkritikerszene, zu der ich mich auch selbst zähle. Das Internetforum Filmtiefen.de zeichnete den Film überraschend beim großen Filmtiefen-Kanon vor Fritz Langs „M“, „Clockwork Orange“ und „Stalker“ als besten Film aller Zeiten (!) aus. Ich prophezeie nicht nur „Irreversibel“, sondern auch Gaspar Noé (sollte er so weiter machen) eine große Renaissance in Filmkritikerkreisen in den nächsten Jahrzehnten. „Irreversibel“, Noés zweiter und vermutlich bester Film ist eine brachiale Filmerfahrung, die den Zuschauer mit höchster Gewalt dazu zwingt, über die Kostbarkeit des Lebens nachzudenken.
Nichts ist umkehrbar
Vordergründig ist der Film eine konsequente Abhandlung der Prämisse: „Nichts ist umkehrbar“. Man kann auch durch noch so viel Gegengewalt die Toten nicht mehr lebendig machen. Gaspar Noés Film ist ein moralisches Schauspiel, eine Abrechnung mit Selbstjustiz und Gewaltspiralen. Der Lösungsansatz hierbei ist Deeskalation. Am Ende bzw. Anfang haben die Figuren noch mehr verloren und nichts gewonnen, der Film wird rückwärts erzählt und nähert sich immer mehr einer Idylle, die durch jede Aggression, die sich mit dem verzweifelten Gedanken, man könne doch etwas umkehrbar machen, die Rache habe einen Sinn, immer weiter in Richtung finales Fiasko bewegt.
Der Mensch ist schlecht, das Leben wertvoll
„Irreversibel“ beendet alle Diskussionen um die Rechtfertigung von Selbstjustiz und Rache in filmischen Geschichten, indem er die totale Rache mit größtmöglichster Brutalität bereitstellt, sie aber durch seine unkonventionelle Erzählweise von Anfang an unsinnig und unmöglich zu rechtfertigen macht. Im Gegensatz zu Racheepen lädt „Irreversibel“ nie zum Mitfiebern mit dem Racheengel ein, der schmale Grat zwischen Faszination und Verurteilung für den Akt der Selbstjustiz stellt sich nie auf, weil die Idee der Rache von Anfang an mit größter Gnadenlosigkeit vernichtet wird. Eingefangen in einem undankbaren Realismus, der nie die Hoffnung aufkeimen lässt, dass es sich hier um eine fiktionalisierte Welt handelt. Nein, „Irreversibel“ spricht mit so realistischem Bildstil, dass man es sich zwei mal überlegt, ob man im Paris-Urlaub die Unterführung betreten sollte. Die Conclusio, die Welt sei laut Noé einfach schlichtweg schlecht und hoffnungslos und der Mensch ein böses Tier kann für Zuschauer für ein frustrierendes Erlebnis sorgen und macht sicherlich die einzige Angriffsfläche auf Noés Werk aus. Aber aus der Erfahrung einer so niederschmetternd hoffnungslosen Realität sollte man das Wertvollste ziehen: Die Erkenntnis wie wertvoll das Leben und wie der härteste Schicksalsschlag unseres Lebens an jeder Ecke, zu jeder Zeit lauern kann.
Der parallele Menschenfeind
Übrigens genial ist auch der Prolog des Films: Hier redet der Schlachter aus Noés Debütfilm „Menschenfeind“ über sein sexuelles Verhältnis zu seiner Tochter. Diese Szene spielt chronologisch nach den Geschehnissen von Menschenfeind, da „Irreversibel“ jetzt aber rückwärts erzählt, wird also hinter den Bildern des Films auch die Geschichte des Schlachters weiter erzählt. Die unbarmherzige Welt des Films ist nicht nur dieselbe wie die des „Menschenfeindes“, der Film bewegt sich auch noch erzählchronologisch auf diese zu.
Ein feministischer Film
Was ich in dem Film aber auch zu erkennen vermag, ist eine feministische Botschaft. „Irreversibel“ seziert den Beschützerinstikt des Mannes, der seine Hilflosigkeit mit Gewalt überdecken wird. Der Beschützerinstikt wird zum Rachereflex, zum Todestrieb. Marcus mag eine sympathische, jugendliche Figur sein, dennoch sind es sexuelle Machtspielchen mit seinem Freund Pierre, die immer in der Luft schweben, Marcus liebt Alex und betrachtet sie nicht als Statussymbol oder Ähnliches, dennoch ist es seine machoartige Gangart, die Alex schließlich verletzt und ihrem Schicksal überlässt und später in blinde Lynchwut übergeht. Der Schwulenclub, in dem die Eskalation schließlich stattfindet, ist eine treffende Metapher auf eine Männerwelt, der Feuerlöscherszene geht als Grund eine fast stattfindende homosexuelle Vergewaltung voran. Die wohl denkbar größte Demütigung für einen Mann. Die Drastigkeit dieser Szene ist also nicht nur darauf zurückzuführen, dass hier der vermeintliche Le Tenia zugrunde gerichtet wird, sondern auch, dass hier eine Akt totaler männlicher Demütigung aus männlichem Selbstverständnis heraus verhindert wird. „Irreversibel“ ist sicher der Magengrubenhieb der Filmgeschichte, unkonventionell erzählt und mit grandioser Kameraarbeit versehen, zeigt er in allen Belangen das herausragende Autorenfilmertalent Gaspar Noés. Die drastische Gewalt, die visionären Kamerafahrten und der Erzählstil des Rückwärtslaufens findet entgegen landläufiger Vorverurteilung nie des Effektes wegen statt, sondern fungiert immer als Mittel, um der Botschaft des Films zu dienen.
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