Dumont forscht nach den Wurzeln des Rassismus in nordfranzösischer Dorfjugend.
Originaltitel: La Vie de Jésus
Alternativtitel: Das Leben Jesu
Produktionsland: Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 1997
Regie: Bruno Dumont
Drehbuch: Bruno Dumont
Produktion: Rachid Bouchareb, Jean Bréhat
Kamera: Philippe Van Leeuw
Montage: Yves Deschamps, Guy Lecorne
Musik: Richard Cuvillier
Darsteller: David Douche, Majorie Cottreel, Kader Chaatouf, Sebastien Delbaere u.A.
Laufzeit: 96 Minuten
Eine Gruppe Jugendlicher irgendwo in der französischen Provinz schlägt die Zeit mit Mopedfahren, trommeln im Fanfarenzug und Autoschrauben tot. Motorengeknatter beim Durchrasen der Straßen, Warmtrommeln vorm Umzug der Kapelle, Mitgröhlen zum Autoradio und anderes Lärmverursachen bilden den äußeren Rahmen ihrer Gemeinsamkeit, nach dem Ende der Kindheit scheint ansonsten nichts mehr zu passieren. Im Krankenhaus , beim Besuch des aidskranken Bruders des einen wird ratlos geschwiegen. Wenn sich die Zeit beim Rumhängen zu sehr dehnt, steigt man wieder aufs Moped oder äfft die arabische Familie am Nebentisch nach. Freddy, der Anführer der Gruppe, leidet unter Epilepsie und drückt sein Selbstwertgefühl mit Stürzen vom Zweirad aus. Die Begegnungen mit seiner Freundin passieren ebenfalls eher sprachlos. Sie treffen sich um zu vögeln und vögeln sich dann um alles andere herum. Dass der Araber Kadir sich allerdings auch für Marie interessiert, wird ihm früher oder später zum Verhängnis. (…)
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 08.02.2013)
Bruno Dumonts Debütfilm „La Vie De Jesus“ handelt von einer Gruppe französischer Jugendlicher Nahe der nordfranzösischen Stadt Callais und ihrer Perspektivlosigkeit. Er zeichnet detailliert und vermutlich auf eigenen Erfahrungen basierend eine Mentalität dörflicher Geschlossenheit, deren latenter Rassismus etwa plötzlich in physische Gewalt umschlagen kann. Der Protagonist Freddy ist ein Verlierer der Gesellschaft: Keinen Vater mehr, Epileptiker, keinen guten Schulabsluss, keine Zukunft. Das einzige, an dass er sich klammern kann, ist seine Freundin Marie, seine Freunde und sein Moped. Freddy ist der durchaus universelle Dorfmacho mit nationalem Pathos und mit Interesse für die geschlechterrollentypischen Hobbys. Die Dumontsche Wortkargheit wird in seinem Debütfilm auch dazu verwendet der Figur Hiflosigkeit und Engstirnigkeit anzuheften.
Antagonist gleich Protagonist
In purer visueller Tristesse aufgefangen ist „La Vie De Jesus“ interessanterweise ein Film, der beabsichtigt ist die Antagonistenrolle in Protagonistenperspektive zu erzählen. Freddy ist die Bedrohung und das Unheil, der jenige, der die Gewalt zur Eskalation treibt und den Araber Kader bedroht, der viel mehr Sympathien entlocken kann. Fehlende Identifikation mit Freddy und seinen Freunden ist eine ungewöhnliche Stärke des Films, man bekommt detailliert Einblicke in Mentalität und ihrer Mechanismen und bleibt kühl-distanzierter Betrachter, der sich dem Fehl ihrer moralischen Richtigkeit bewusst wird. Eine Sonderrolle nimmt Marie, die Freundin Freddys ein, die als Brückenstück zwischen Freddy und dem eigentlichen Protagonisten Kader fungiert. Sie ist als einzige Figur in der Lage reflektiert zu denken, da ihre Attitüde auch nicht die Primitivität und den latenten Rassimus von Freddy und Freunden einfängt, wirkt ihre Liaison mit Freddy allerdings rückbetrachtend nicht immer glaubwürdig.
Rassistische Doppelmoral
Freddy sagt Marie, er würde nicht nur Kader sondern auch sie töten, wenn beide auch nur im Entferntesten etwas miteinander haben würden. Dies zeigt seine verzweifeltes Festhalten an der Welt, die er von Kleinauf kennengelernt hat. Er ist zu bedingungsloser Durchsetzung seiner Wertevorstellungen bereit. So ist „La Vie De Jesus“ kein Film über Rechtsextremismus, doch aber einer über das Entstehen solcher Strukturen und dass das Ruralproletariat immer dazu neigt Pulverfass für die Eskalation seiner Perspektivlosigkeit zu sein. Die Figurenbeziehungen und -eigenschaften sind hierfür extrem trefflich gewählt. Freddy ist ein Trommler bei einem national eingestellten Dorfmusikverein und Sohn einer Dorfwirtin, er ist Mittelpunkt einer Dorfgesellschaft. Der klassische Rabauke, den jeder kennt und auch jedem für seine Untriebe vergibt, auch wenn er ein Mädchen vergewaltigt — während der Araber im Dorf nichteinmal Interesse für ein einheimisches Mädchen zeigen darf. Die rassistische Doppelmoral deckt Dumont nicht nur in Freddy, sondern im gesamten Dorf auf, so ist das Dorf letztlich Mitschuldiger für die Eskalation.
„Pardon“
Die entscheidende Szene des Films ist, als Marie Kader umarmt und ihn „Pardon“ ins Ohr flüstert. Freddy hat zuvor beide zusammen gesehen, das provoziert Marie auch förmlich, indem sie absichtlich vor Freddys Haus spaziert. In dieser Umarmung weiß Marie bereits, dass es zur Eskalation kommen wird. Nun kann der Zuschauer rätseln, was das „Pardon“ zu bedeuten hat. Auf dem ersten Blick erscheint es eine Entschuldigung für Maries abweisende Verhalten zuvor zu sein, allerdings lässt es sich auch so verstehen, dass es das Kommende entschuldigen will, was Marie in diesem Moment schon bewusst ist: Die Eskalation.
Schwachstellen im Erstlingswerk
Bei all den interessanten Details dieses tristen Dramas hat Bruno Dumonts Erstlingswerk aber auch eine Handvoll Schwachstellen. Erzählerisch funktioniert nicht alles, die Vergewaltigung verpufft, da der Film sich zuvor nicht für das vergewaltigte Mädchen interessiert hat. Die ultranaturalistische Sexszene ist viel zu sehr der Provokation wegen im Endmaterial des Films und hat keinen narrativen Mehrwert. Zudem ist der Handlungsablauf von Exposition zu Katastrophe recht gewöhnlich und vorhersehbar, was den Film letztlich zwar zu einem unbedingt sehenswerten und interpretierbaren Film macht, der mich persönlich als ehemaliger Dorfjugendlicher sehr beschäftigt, aber ihn auch letzten Endes noch von einem „sehr guten“ Filmerlebnis unterscheidet.
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