Über Atheismus, Töten und den Wert menschlicher Überzeugungen.
Originaltitel: Lo Straniero
Alternativtitel: Der Fremde
Produktionsland: Italien, Algerien, Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 1967
Regie: Luchino Visconti
Drehbuch: Luchino Visconti, Emmanuel Roblès, Suso Cecchi D’Amico, Georges Conchon
Produktion: Dino De Laurentiis
Kamera: Giuseppe Rotunno
Montage: Ruggero Mastroianni
Musik: Piero Piccioni
Darsteller: Marcello Mastroianni, Anna Karina, Bernard Blier, Georges Wilson, Bruno Cremer, Pierre Bertin, Jacques Herlin
Laufzeit: 104 Minuten
1935: Im von Frankreich besetzten Algerien kommt es zu einem Mord eines Einheimischen am Strand. Ein Franzose, der Zeit seines Lebens in Algerien gelebt hat, wird festgenommen, weil er der Täter sein soll. Es kommt zum Prozess.
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 03.09.2013)
Luchino Visconti, der lombardische Leser, konnte kaum ein Drehbuch schreiben ohne dass am Ende eine Adaption eines weltliterarischen Klassikers dabei rauskam. Seine Filme adaptierten und interpretierten Klassiker aus deutscher („Tod in Venedig“), amerikanischer („Ossessione“), russischer („Weiße Nächte„) und natürlich auch einheimischer Literatur. Dieser Hintergrund macht Visconti zu einer unmissbaren Station für Literaturbegeisterte, auch wenn das Literaturverhaftete in seiner Kunst seine Filme auch statischer und theatralischer machten. „Der Fremde“, den Visconti zwischen „Sandra“ und „Die Verdammten“ nach einem Roman des Franzosen Albert Calmus drehte, ist ein mehr als solider Leitpfosten im Visconti-Oeuvre, wenn auch kein Must-See.
Ein Mord an einem Araber ohne rassistisches Motiv
„Der Fremde“ ist ein italienischer Film über das Töten, ein Film über die Gleichgültigkeit und über den Wert menschlicher Überzeugungen. Der phlegmatische Tagelöhner Meursault ist ein in Algerien geborener Franzose und Angehöriger des Proletariats. Ausgerechnet er tötet aus Affekt einen Araber. Es ist kein rassistisch aufgeladener Akt, viel mehr ist Meursault sogar selbst Teil desselben Proletariats wie es die arabische Bevölkerung Algeriens größenteils in den 1960er Jahre war, im Gegenzug zu der weißen, herrschenden Klasse der französischen Post-Kolonialisten, die Meursault ablehnt, zumindest sich aber nicht mit ihnen identifiziert (Paris sei dreckig und die Leute haben dort alle eine weiße Haut). Auch in „Der Fremde“ findet sich also das viscontische Reiben an der herrschenden Klasse, auch wenn er ihr nur einen Mörder entgegenstellen kann und so schnell herausstellt, dass er sich wirklich eindeutig auf keine politische Seite stellen und sie moralisch überhöhen will.
Der Atheist: fremd, aber frei
Viel mehr ist dieser Visconti ein Film, der eine atheistische Position gegenüber eines religiösen-bürgerlichen Selbstverständnis vorträgt und somit wieder seine sozialistischen Spielweisen eröffnet. Meursault wird in aller Härte verurteilt, weil er nicht an das christliche Bild der französischen Bourgeoisie passt. Sein emotionsloses Verhalten gegenüber seiner Mutter wird ihm wie eine Sünde angehaftet, seine fehlende Einsicht vor Gott löst Empörung aus. Dass sein atheistisches Ablehnen eines Gottesglauben nicht als legitime Motivation ausgelegt wird, fällt unter die Kritik von Viscontis Film. Natürlich ist der Protagonist kein Heiliger (wie es die stolzen Fischer aus „Die Erde Bebt“ etwa sind), er ist ein Mörder, aber dass Menschen ein milderes juristisches Urteil erwarten dürfen, nur weil sie vor einer Gottesgestalt Reue demonstrieren, ist eine Ungerechtigkeit, die uns Visconti hier belehrend als solche darstellen will. Und vielleicht ist das Verhalten des atheistischen Meursault, der mit seiner Gleichgültigkeit zwar empört, aber immerhin Aufrichtigkeit genug besitzt, um sich selbst dem Gericht zu stellen und seinem Schicksal entgegen zu sehen, gar das vorbildlichere. Er ist „der Fremde“, weil er als einziger nicht an Strohhälmen der Hoffnung wie der Religion hängt und so wahrlich frei ist.
Ein Prolog zum Pontecorvo-Klassiker?
Ein atheistischer Film durch und durch, der den Helden aber nicht tragisch scheitern lässt, sondern eben an seiner Seite auch mit seinen Lastern und Fehlern mitleiden will. Die Identifikation mit dem Protagonisten fällt aber schwer, was natürlich dank der emotionslosen Figur der Camus-Vorlage unvermeidbar ist. Das wirklich Grandiose an „Der Fremde“ ist der überzeichnete bürgerliche Pathos des Gerichts, der keinerlei Pflichtgefühl gegenüber dem verstorbenen Algerier zeigt (dieser bleibt immer abwertend-distanziert „der Araber“), sondern sich lediglich auf das Verhalten Meursaults stürzt, das partout nicht in das Weltbild der Kolonialisten passen will. Vielleicht hätte man einen solchen Existenzialismus, wie ihn Meursault hingegen den überholten Vorstellungen eines „christlichen Verhaltens“ auch für eine friedliche Koexistenz beider Bevölkerungsgruppen in Franko-Algerien gebraucht. Vielleicht ist „Der Fremde“ durchaus als Prolog des ein Jahr zuvor erschienenden „Schlacht um Algier“ zu lesen.
Was Gedankenexperimente und literarische Abende angeht, steht „Der Fremde“ anderen Visconti-Filmen kaum nach. Trotz moderater Spiellänge werden dem Zuschauer aber keine Zugeständnisse hinsichtlich Unterhaltung gemacht. Nichtsdestoweniger ein brillanter Film.
72%
© Dino de Laurentiis Cinematografica / Master Film / Marianne Productions / Casbah Film
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