Film der Stunde, Film der Wagnisse. Mitreißend trotz relativem Neutralitätsanspruch.
Originaltitel: Mediterranea
Alternativtitel: Mediterranea — Refugees Welcome?
Produktionsland: Italien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, USA, Katar
Veröffentlichungsjahr: 2015
Regie: Jonas Carpignano
Drehbuch: Jonas Carpignano
Produktion: V.A.
Kamera: Wyatt Garfield
Montage: Sanabel Cherqaoui, Affonso Gonçalves, Nico Leunen
Musik: Dan Romer, Benh Zeitlin
Darsteller: Koudous Seihon, Alassane Sy, Pio Amato, Davide Schipilliti
Laufzeit: 111 Minuten
Mediterranea, das Mittelmeer, ist für viele Flüchtlinge vom afrikanischen Kontinent die größte Hürde, die sie nehmen müssen, um nach Europa zu gelangen. Auch der aus dem westafrikanischen Burkina Faso stammende Ayiva (Koudous Seihon) wählt diese Seeroute, um das große Glück jenseits des großen Wassers zu suchen. Er hofft, in einem der reichen europäischen Länder genug Geld zu verdienen, um der daheimgebliebenen Tochter und seiner Schwester von dort aus ein angenehmeres Leben finanzieren zu können. Zusammen mit seinem Freund Abas (Alassane Sy) begibt sich Ayiva also auf ein von Schmugglern betriebenes Flüchtlingsboot. Doch das Schiff sinkt und nur mit Mühe schaffen die beiden Freunde es an die Küste Italiens. Hier versuchen sie nun Fuß zu fassen, doch immer wieder kommt es zu fremdenfeindlichen Übergriffen …
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Es ist wohl der größte filmpolitische Irrtum des Jahres 2015: Der furchtbare „Dheepan„, der weder inhaltlich noch ästhetisch überzeugen kann, bekommt in Cannes offensichtlich einzig und allein aufgrund seiner Flüchtlingsthematik den wichtigsten Preis der Filmbranche, obwohl es schon ungerecht ist, dass dieser Film überhaupt im Wettbewerb läuft. Währenddessen wird Jonas Carpignano mit seinem Debütfilm „Mediterranea“, der dasselbe Thema genau in den Schwachstellen von „Dheepan“ absolut überzeugend thematisiert, gerade mal mit dem Wettbewerb Semaine internationale de la critique (Internationale Kritikerwoche, ungefähr vergleichbar mit einer dritten oder vierten Liga des Cannes-Festivals) abgespeist — und selbst hier blieb der Film unprämiert. Absurd, denn „Mediterranea“ schafft es gleichzeitig mitreißend als auch weitestgehend neutral zwischen Flüchtlingen und Europäern, Gästen und Gastgebern, zu agieren und damit eine ziemlich seltene und im aktuellen politischen Diskurs absolut notwendige Leistung. Ganz ohne Schwächen bleibt das Flüchtlingsdrama zwar nicht, aber gehört dennoch zu den Highlights des diesjährigen Weltkinos.
Flucht ohne „Woher“
Gleich mit den ersten Minuten trifft Carpignano eine mutige und schwierige Entscheidung. Er verzichtet nämlich größenteils auf das Zeigen eines „Wohers“. Wir wissen, unser Protagonist Ayiva und sein Freund Abas machen sich von Burkina Faso ins sichere Europa auf. Aber wovor sie flüchten, also woher, aus welchen sozialen Missständen, sie entfliehen müssen oder wollen, bleibt ziemlich nebulös. Carpignano verlagert diese Frage in das Allgemeinwissen, welches der Zuschauer bereits in den Kinosaal mitbringt — oder eben auch nicht. Der Film macht sich hier prinzipiell angreifbar, denn das Flüchten an sich und damit einhergehend auch die nicht immer unschuldigen Handlungen der Flüchtlinge in Europa, wird im Film nicht durch einen wirklichen Grund entschuldigt. Es ist sogar so, dass die Familie des Protagonisten, wie sich später herausstellt, ein Dach über dem Kopf samt Internetanschluss besitzen. Natürlich ist Burkina Faso eines der ärmsten Länder der Welt und politisch alles andere als gefestigt, nur geht aus dem Film nicht hervor, warum Ayiva und Abas einen dringenderen Grund auf Asylrecht haben sollten als viele andere Menschen auf der Welt und in Afrika.
Flucht an sich
Was macht das nun aber? „Mediterranea“ thematisiert Flucht an sich. Das ständige Begründen zwischen guten und schlechten Flüchtlingen wird hier beiseite geschoben. In einer Szene sagt Ayiva, er liebe seine Heimat und in einer anderen, dass er dorthin wieder zurückkehren möchte. Er flüchtet aber trotzdem und aus dieser Handlung an sich ergibt sich somit eine Erklärung. Der Film ist pausenloses Flüchten, er findet nie eine Ruhe, das Flüchten hat nie ein Ende. Und damit sensibilisiert der Film für die Flucht als solche. Die Flucht hat in diesem Film durchaus einen Anklang von Abenteuerlichkeit und somit auch eines durchaus egoistischen Reizes und doch ist die Flucht wissentliche Lebensgefahr. Auch wenn der Film in dieser Hinsicht noch konkreter sein könnte, zeigt er immer wieder durch IS-Milizen, durch das fahrlässige Betreiben eines primitiven Kleinbootes auf dem offenen Meer und schließlich durch europäische Rassisten, dass Flucht kein einfaches, sozialschmarotzendes und schon gar kein feiges Unterfangen ist. Carpignano ist sehr sehr vorsichtig darin, klare politische Statements abzugeben, was er darin realisiert, dass er soziale Konditionen, sowohl im Herkunftsland als auch im Aufnehmerland, nicht in Zahlen fasst, erst gar nicht thematisiert. Das findet sich im Titel wieder „Mediterranea“, der Raum des Mittelmeers, lenkt die Aufmerksamkeit auf den politisch unzugehörigen, bzw. undefinierten Raum der Flucht, auf den sich sowohl Flüchtlingsländer in Nordafrika als auch das wohlhabendere Südeuropa geografisch beziehen können.
Fußball als Symbol kulturellen Verbundenheitsgefühls
Ich möchte eine kleine Nuance des Films hervorheben, die wohl die wenigsten Beobachter entdeckt haben dürften oder thematisieren wollten, aber sie beweist, wie detailliert der Mikrokosmos ist, die dieser interessante und intensive Film aufbaut. Abas, der beste Freund von Ayiva, trägt ein Trikot des italienischen Fußballclubs Inter Mailand (viel Liebe dafür). Das ist ein Symbol. Zunächst steht Inter Mailand als Fußballclub bereits für Kosmopolitismus und Internationalismus. Zum Anderen ist es kein Zufall, dass dieselbe Figur, Abas, die sowohl den italienischen Clubfußball unterstützt als auch später noch einen Sweatshirt des gesamten italienischen Fußballverbands tragen wird, später von italienischen Proleten fast totgetreten wird. Das ist eine feine Ironie, die sicherlich nicht unbeabsichtigt war. Menschen kommen nach Europa mit Bewunderung für europäische Kultur, obwohl es dieselbe war, die ihre Länder teilweise verwüsteten und ausbeuteten. Trotzdem treffen sie auf Ablehnung. Würden wir im umgedrehten Falle etwa afrikanische Trikots tragen? Zu bezweifeln.
Klischees bedienen, Klischees entkräftigen
„Mediterranea“ macht noch etwas anderes Schwieriges, das ihm Angriffsfläche aufzwingt. Und zwar, dass der Film die Flüchtlinge als eine geschlossene und befreundete Gesellschaft zeigt. Man kann nicht behaupten, dass dies niemals gewesen sei und doch ist es unwahrscheinlich, dass eine ethnisch hochheterogene Menschenmasse derart friedlich miteinander umgeht. Es ist trotzdem eine absolut wundervolle und mitreißende Szene, in der die schwarzen Flüchtlinge zusammen Rihanna hören und sich über Musik streiten. Alles in allem ist die gesamte Charakterzeichnung in diesem Film vorbildlich und das Schauspiel ebenso beeindruckend. Die nächste Hürde, die sich „Mediterranea“ auferlegt, ist, dass er keine Angst vor Klischees hat. Abas ist zum Beispiel ein großmäuliger Frauenheld, der es auf europäische Mädchen abgesehen hat. Nur sind Klischees eben nur Klischees, wenn sie wie Klischees erzählt werden. „Mediterranea“ hingegen lebt von Mark und Bein erschütternder Atmosphäre. Aufgefangen in klassischen dokudramatischen Handkamera-Bildern. Ohne den Zwang ästhetische Pionierleistung erzeugen zu müssen, ist seine Kinematografie funktional, dem Topos angemessen und von Anfang bis Ende kongruent (davon kann man ja bei „Dheepan“ überhaupt nicht reden).
Objekte und Menschen mit relativem, situativem „Wert“
Carpignano zeigt Bilder einer kapitalisierten Welt, die ihre eigenen Bewegungsabläufe nicht mehr überblicken kann. Und damit sind nicht nur Menschen gemeint, sondern auch Waren wie einen MP3-Player, den Ayiva für sein Erspartes erwirbt oder Orangen (hier spielt der Film geschickt auf den Migrationsklassiker „Grapes Of Wrath“ an). Auf dem einen Fleck der Welt kann eine Ware, eine menschliche Arbeit oder der Mensch an sich ein kostbares, fast unbezahlbares Gut sein (hier muss man den Menschen als zwischenmenschlichen, emotionalen Bedeutungsträger denken. Als Vater ist Ayiva zum Beispiel genauso unersetzlich wie den MP3-Player, den er seiner Tochter schenkt, als Objekt). An einer anderen Stelle der Welt kann derselbe Mensch ein preislich relatives Geschäft sein, ebenso wie der MP3-Player, der auf dem italienischen Schwarzmarkt von einem ausgebufften kleinen Jungen deutlich unter Wert gehandelt wird. Auch hier verhalten sich Objekt und Mensch ähnlich als kapitalistisches Phänomen. Und schließlich kann derselbe Mensch an einem wieder anderen Ort der Welt bzw. in einer anderen Situation als wertloser Müll betrachtet werden, dann nämlich, wenn Rassismus und „Asylkritik“ ins Spiel kommt. Ebenso wie man die massenweise hergestellten Plastik-Produkte wie den MP3-Player in bestimmten Situationen auch als Müll betrachten kann (etwa wenn ein Aufladekabel fehlt). Ebenso wie kapitalistische Produkte haben also auch Menschen in diesem System einen situativen und relativen Wert, sie sind selbst nichts anderes als kapitalistische Produkte. Eine traurige Wahrheit, die „Mediterranea“ ausdrückt.
Der Verlust der Neutralität im Getümmmel
Nun aber das allergrößte Wagnis von „Mediterranea“: Als zwei Schwarzafrikaner urplötzlich im süditalienischen Rosarno erschossen werden, rasten die Schwarzafrikaner komplett aus. Sie zerlegen die halbe Stadt, zerstören Geschäfte und verbrennen massenweise PKWs. Wo ist der Zuschauer in dieser Situation? Mittendrin, aber eben doch kein Komplize des Gezeigten. Der Film überrascht uns damit, zu was die Figuren, für die wir eben Empathie zeigten, fähig sein können. Zu unreflektierter Lynch-Justiz. Und als Schwarzafrikaner auf einen am Boden liegenden Autofahrer eintreten, schaut die Kamera weg, währenddessen dasselbe gegenüber Abas, der ebenso kaputtgetreten wird, noch hochempathisch inszeniert ist. Hier verliert Carpignano kurz seine relative Objektivität, seine Strategie der Grautönigkeit gegenüber klassischer Schwarz-Weiß-Dramaturgie. Es folgt dann auch bei „Mamma Afrika“, einer sympathischen, politisch engagierten Seniorin, die Abas und Ayiva zuhause schlafen lässt, keine moralische Läuterung. Natürlich haben diese Flüchtlinge Kriege und ihre Logiken durchlebt, hatten keinen Ethikunterricht in der Schule und durchleben einen überfordernden Culture-Clash. Der Film muss hier trotzdem klarmachen, dass Integration zwei Seiten hat, von denen beide freiwillige Toleranz vorausgesetzt sein muss. Auch gefällt mir der Final Shot dieses Films nicht, in dem Ayiva in der Unschärfe einer europäischen Geburtstagsparty verschwindet. Als Metapher für die Aufnahme des Flüchtlings in die Gesellschaft leider relativ flach.
Man kann „Mediterranea“ eine nicht unerhebliche Menge an Dingen vorwerfen. Er ist aber ungemein genial darin, Flucht als Medium zwischen dem demonstrativ ungeklärten Woher und Wohin nachfühlbar zu machen und ganz offen mit Schattenseiten und moralischen Schwierigkeiten umzugehen. Ja, „Mediterranea“ zeigt viele Vorurteile, die Europäer gebenüber Flüchtlingen haben als Tatsachen, aber trotzdem, nein, gerade deswegen sensibilisiert er uns für das Schicksal dieser Menschen. Und das muss aktuell die absolute Priorität in dieser Krise sein. Ab in die europäischen Kinos mit diesem Film.
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