Schwelgerische Niederschwelligkeit
Originaltitel: Rickerl — Musik is höchstens a Hobby
Produktionsland: Österreich, Deutschland
Veröffentlichungsjahr: 2023
Regie: Adrian Goiginger
Drehbuch: Adrian Goiginger
Bildgestaltung: Paul Sprinz
Produktion: Gerrit Klein, Peter Wildling, David Stöllinger, Martin Pfeil, Adrian Goiginger
Darsteller: Voodoo Jürgens, Ben Winkler, Agnes Hausmann, Claudius von Stolzmann, Rudi Larsen, Nicole Beutler u.A.
Laufzeit: 104 Minuten
Als Hobby- und Beislmusiker lebt Erich „Rickerl“ Bohacek mit Anfang 30 in Wien der Gegenwart am Rande des Existenzminimums. So versucht er sich mit begrenztem Erfolg als Totengräber, Sexshop- und Würstelstandverkäufer, womit er in erster Linie die Einstellung der Zahlungen des Arbeitsmarktservice vermeiden möchte. Er hat einen 6-jährigen Sohn, Dominik, der jedes zweite Wochenende bei ihm ist, während die Mutter, Viki, sich ein neues Leben mit einem reichen „Piefke“ im Nobelviertel Hietzing aufgebaut hat. Mit seinem eigenen Vater, einem notorischen Glückspielautomatenzocker, steht er auf Kriegsfuß. Einen gewissen Rückhalt findet er bei seinem Stammtisch, der seine Vorliebe für den Fußballverein Rapid Wien teilt. Rickerl hofft mit seinen persönlichen, emotionalen Liedern Erfolg zu haben, steht sich dabei aber immer wieder selbst im Weg; so verfügt er noch nicht einmal über ein Smartphone, mit dem seine Kompositionen aufnehmen oder mit seinem Agenten kommunizieren könnte. Er tritt erfolgreich als Musiker bei einer Hochzeit auf, doch dann kommt es im Publikum zu einer Schlägerei. Als er in einer Musiksendung des ORF vorgestellt werden soll, macht er vor der Tür des Senders kehrt und verbringt lieber den Tag mit seinem Sohn beim Wildcampen in den Donauauen. Der große Durchbruch lässt daher auf sich warten.
Quelle: de.wikipedia.org
Replik:
Dieser Artikel soll eine kurze, aber heftige Hymne auf Adrian Goigingers neuen Film „Rickerl“ sein, weil seine doppelte Unscheinbarkeit womöglich seine Größe und Wichtigkeit verdeckt. Einerseits ist „Rickerl“ im weitesten Sinne ein Mainstreamfilm, Musikfilm, Biopic- und Familienkomödie, die in Deutschland sogar Kinostarts in den großen Multiplex-Kinos bekommen hat, was seine Wahrnehmung als Autorenfilm abschwächen dürfte. Andererseits ist er ein erstaunlich spektakellos erzählter, eigenwilliger und ja, kleiner Film, der auch das Massenpublikum nicht die erwartete Befriedigung zukommen lassen dürfte. Im positivsten Sinne merkt man „Rickerl“ an, dass er nicht vordergründig zielgruppenorientiert produziert worden ist, sondern sich aus der Liebe zur eigenen Hauptfigur, porträtierten Welt und ja, aus einer Haltung (zur Wirklichkeit) heraus entwickelt worden ist.
Minimalismus
„Rickerl“ erzählt die Geschichte eines halbobdachlosen Landstreichers und Barmusikanten namens Rickerl Bohacek, der mehr als deutlich an die eigene Biografie seines Hauptdarstellers Voodoo Jürgens angelehnt ist. „Rickerl“ ist die filmische Zuspitzung der Kunstfigur Voodoo Jürgens, die sich da und dort wohl aus Autobiographemen und da und dort wohl aus Wiener folklorischer Übertreibung zusammensetzt. Durch und durch ist Goigingers Film um Voodoo Jürgens herum organisiert: Der Liedermacher trägt diesen Film in zweierlei Hinsicht auf seinen Schultern. Einerseits weil sein Spiel fantastisch ist, weil Voodoo Jürgens den schauspielerischen Duktus vorzugeben scheint, in dem ein nuschelndes, alkoholisiertes und dialektales Sprechen alle Figuren mehr zu Modellen ihrerselbst als zu wirklichen Schauspielern macht. Andererseits dürfte die (relative) Bekanntheit, sowie Eigenwilligkeit des Musikers den Film auch vor zu großen Eingriffen deutscher Geldgeber abgesichert haben, denn der im wienerischen Dialekt gedrehte und makrodramaturgisch äußerst unspektakulär gehaltene Film nimmt keine größere Rücksicht darauf, welchem Publikum man es hier vielleicht auf welche Weise rechtzumachen hätte. Die Kamera tunkt alles in ein nostalgisches Beige, schwenkt seine Figuren mit einer gewissen unkompositorischen Notdürftigkeit ab, richtet sich nach ihnen. Es ist dieselbe Rotzigkeit, die sich um nichts wirklich schert, die man auch aus Voodoo Jürgens Musik kennt. Beschreibt man die Handlung von „Rickerl“ kommt man schnell mit marketingtechnisch vorbelasteten Posteradjektiven wie „herzerwärmend“ heraus, deswegen beschreibt man den Film vielleicht sogar besser ex negativo, also als das, was der Film nicht ist. Durch etliche Schablonen geldgebender Fernsehredaktionen und vergleichbarer, erfolgreicher Musikbiopics als Vorbilder, wäre es naheliegend gewesen, den Film mit einem viel größeren Erzählbogen zu versehen. Eine große emotionale Reise vom Niemand zum Star oder vom Versager zur großen moralischen Läuterung. Aber Rickerl verändert sich über den gesamten Film eigentlich gar nicht, bleibt auf dieselbe ein liebenswerter, aber fahrlässiger Vater. Ein paar Berufe werden probiert und vor die Wand gefahrt, eine Gitarre verloren und wiedergefunden und am Ende gibt es noch ein Ständchen vom Sohnemann, gefolgt von einer Abblende zu Schwarz. Das erzählerisch Minimale trifft hier auf eine Haltung zum Menschen, die in manchen Kritiken als Glorifizierung von Alkoholismus und Verantwortungslosigkeit missverstanden wurde, aber eigentlich eine humanistische Haltung bereithält. Dass wir nämlich Menschen als die, die sie nunmal sind, verstehen lernen, indem wir uns in ihre (abgelatschten) Schuhe stellen.
Schwelgerische Niederschwelligkeit
„Rickerl“ feiert das Analoge, Verrauchte und Urige, wie es in Wien (hoffentlich) niemals aussterben wird, ohne dabei manieriert oder unglaubwürdig zu sein. Wenn man einer Figur abkauft, dass er kein Smartphone hat, dann diesem Rickerl, weil man ihm abkauft, schlichtweg keines haben zu wollen. Dass die Smartphonelosigkeit dann auch noch für kleine dramatische Pinselstriche verwendet wird? Umso besser. So verpasst Rickerl hier mal einen Gig, ist dort mal ohne Google Maps orientierungslos. Trunken torkelt der Musiker durch Zeit und Raum. Allgemein wird so mancher Zuseher dazu neigen, die erzählerische Klasse und inszenatorische Kraft des Filmes aufgrund seiner vermeindlichen Kleinheit und Wurtschtigkeit zu unterschätzen. Goiginger gelingt es, in den extrem natürlichen Mundartdialogen fein Informationen über die Figuren zu dispergieren und nie unterliegt er der Versuchung, einen Konflikt künstlich auf Kosten der Figurenglaubwürdigkeit zu provozieren. Im Gegenteil, wie etwa die Ex-Freundin Rickerls, die jetzt mit dem bürgerlichen deutschen „Schwammerl“ Kurti zusammen ist und in einem Einfamilienhaus in Wien-Hietzing lebt, sich doch wieder selbstbewusst in einer einzigen Nacht in die Welt der halbobdachlosen Trunkenbolde reintegrieren kann, ist eigentlich kontraproduktiv, um einen möglichst explosiven Ständekonflikt aufzubauen, erhöht die Glaubwürdigkeit der Erzählwelt aber um ein Vielfaches. Alles lebt. Jede Figur ist tief empfunden und treibt die Filmhandlung mehr vor sich her als umgekehrt. Genau das ist es, was Goiginger schon in seinem Debüt „Die beste aller Welten“ so eindrucksvoll bewiesen hat; dass seine Regie nämlich in der Lage ist, die Zuschauerin an den Tisch eines Milieus zu setzen und die Erwartungen des Publikums dann geflissentlich zu ignorieren. In seiner Spontaneität, Echtheit und Mut zur eigenen Glanzlosigkeit ist „Rickerl“ einer der ganz wenigen deutschsprachigen Filme unserer Tage, die einen waschechten Geist des Neuen Deutschen Film atmet, insbesondere an frühe Werner-Herzog-Filme erinnert. Unscheinbarerweise, schwelgerisch-niederschwellig, hat Goiginger mit „Rickerl“ seinen wohl pursten und besten Film gemacht.
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