Die totdiskutierte 68er-Generation: Assayas sagt einfach alles.
Originaltitel: Après Mai
Alternativtitel: Die Wilde Zeit
Produktionsland: Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 2013
Regie: Olivier Assayas
Drehbuch: Olivier Assayas
Produktion: Charles Gillibert, Nathanaël Karmitz
Kamera: Éric Gautier
Montage: Luc Barnier
Darsteller: Clement Metayer, Lola Créton, Felix Armand, Carole Combes, India Menuez, Hugo Conzelmann, Mathias Renou, Léa Rougeron
Laufzeit: 122 Minuten
Politisch und kreativ engagiert kämpft der junge Student Gilles (Clement Metayer) gemeinsam mit Christine (Lola Créton) für seine Überzeugungen. Doch nicht nur die großen Probleme der Menschheit müssen gelöst werden, auch die Liebe macht dem jungen Revoluzzer zu schaffen. Nicht nur die Liebe zu Christine, auch die zu seinen Freunde, oder die Liebe zur Kunst, lassen sein Herz höher schlagen. Gilles muss Entscheidungen treffen und seinen Träumen folgen, um letztendlich seinen eigenen Platz in diesem Leben finden zu können…
Quelle: Moviepilot.de
Replik:
(ursprünglich erschienen als Post
im mittlerweile inaktiven Filmtiefen.de-Forum, 28.12.2013)
Olivier Assayas, einer der aktuell interessantesten französischen Auteur-Filmern, drehte mit „Après Mai“ ein umfassendes Werk über seine Jugend und das Lebensgefühl seiner Generation. Die berühmt-berüchtigte 68er-Generation ist eigentlich totdiskutiert, -zitiert und zum Hippie-Klischee verwurstet. Assayas ging also das Risiko ein, in denselben Melancholien wie etliche vor ihm zu schwelgen. Dass der Protagonist Gille Assayas‘ Alter Ego ist, dürfte sogar Zuschauern auffallen, die den Regisseur und seine Biografie nicht kennen, denn Gilles will Filmemacher werden. Die große Leistung von „Après Mai“ ist der Drahtseilakt, einerseits eine Geschichte der Geschichte zu erzählen, die von individualistischen Empfindsamkeiten befreit ist, gleichzeitig aber ein Gefühl der Zeit darzustellen, die den Film nicht nur im Kopf, sondern auch im Herzen funktionieren lässt.
Ein beherrschtes Spiel mit dem Feuer
„Après Mai“ gewinnt durch seine epische Erzählweise, die schon in „Carlos – Der Schakal“ der entscheidende Trumpf war. Der ausführliche Erzählstil, reich an Ort- und Zeitsprüngen, ist ein Spiel mit dem Feuer, das Assayas aber bestens beherrscht. Das Leben nach dem Mai setzt in Gilles Schulzeit ein und leitet dann in eine Nachjugend hinein, die sich an keine exakten Daten hangelt, sodass das Zeitgefühl des Protagonisten zu dem des Zuschauers wird. Hingegen anderer Geschichtsfilme/Biografien wirkt Assayas Film weniger bemüht, eine bestimmte Abfolge von Schlüsselerlebnissen abzuarbeiten. Dieses erzählerische Talent wird von den wenigsten Zuschauern des Films gewürdigt werden, da es so unauffällig ist.
Assayas‘ Ringen mit dem früheren Ich
„Ich hasse alte Dichter. Vor allem alte Dichter, die Rückzieher machen.
Andere alte Dichter zu Rate ziehen. Die flüsternd über ihre Jugend
sprechen und sagen: Damals habe ich so gehandelt. Doch das war damals.
Das war damals.„
Assayas ringt hier mit seinem früheren Ich und womöglich wäre das Aufeinandertreffen des damaligen aktiven und heißspornigen Linken mit dem jetzigen bürgerlichen Linken ein Konflikt wie ihn Gilles mit seinem Vater hat. Beides sind Intellektuelle mit gesunden Idealen, aber das Altkluge und Gemütliche des Vaters ist Gilles doch zuwider. Die biografische Retrospektive, die Assayas nun in die Zeit nach dem Mai und in seine Figur Gilles hinein aufbaut, ist ein Gegenstand der Analyse, der sich anböte, da in der intentionalen Position des Films zur 68er-Generation auch eine Position Assayas zu seiner eigenen Jugend zu finden sein dürfte. Und gerade im Bezug zum filmeigenen Diskurs, ob Revolutionsfilme auch eine revolutionäre Syntax innehaben sollten, die sich von der der Bourgeoisie abgrenzt, ist die Frage interessant, wo der biografisch-neutrale Stil des Films zwischen links-agitierender Biografieverherrlichung und selbst- und generationskritischer Reflexion einzuordnen ist.
Diskutieren über politische Kunst
Diese Neutralität macht den Weg frei, um die Diskurse, die der Film mit sich bringt, nicht im Vornherein unter die Kritik bzw. Glorifizierung geraten zu lassen. So versetzt „Après Mai“ das Publikum unvoreingenommen in die Diskussionskreise, die Politik, Lebensstil und die Ästhetik politischer Kunst diskutieren. Vor allem die letzte Frage ist ein Kernmotiv des Films. Gilles will Maler, aber auch Filmregisseur werden. Er will fiktive Filme drehen, gibt aber nie einen Hinweis darüber, wie diese Filme eigentlich aussehen sollen. Dafür können wir einen Blick auf die Bilder werfen, die er malt. Sie sind kunstvoll, uneindeutig und absolut unpolitisch. In diese Richtung könnte man also auch seine Filmideen weiterdenken.
Demgegenüber steht ein genossenschaftliches Filmer-Kollektiv, mit dem Gilles Südfrankreich und Italien bereist. Sie drehen — der Film wird zwischen den Zeilen doch sehr deutlich — Propagandafilme. Natürlich verwenden sie Originalmaterial leidender Kommunisten in Südostasien etc., aber sie sind dermaßen mit politischen Parolen aus dem Off zugestellt, dass man eine propagandistische Wirkung, auf die gezielt wird, nicht verleugnen kann. Eine kritische Stimme aus dem italienischen Plenum kritisiert dann: „Eure Filme übernehmen dieselben Muster wie sie auch von der Bourgeoisie genutzt werden. Sollte das revolutionäre Kino nicht auch eine revolutionäre Syntax verwenden?„, daraufhin der Filmemacher: „So ein Stil wäre wahrscheinlich ein Schock und eine Überforderung für das Proletariat. Wir sind angetreten, um aufzuklären.„. Eine weitere Filmemacherin des Kollektivs begegnet der kritischen Stimme dann mit „Wäre es nicht denkbar, dass die revolutionäre Syntax (…) in Wahrheit vielleicht eher der individualistische Stil des Kleinbürgertums ist?„
Assayas‘ Handlung scheint ein wenig um die Schlagsätze zu kreisen, die der Film immer wieder in den Raum wirft und die den Zuschauer intellektuell beschäftigen. Die Passage, die die Möglichkeit eines revolutionären kinematografischen Stils diskutieren, sind besonders relevant, da „Après Mai“ ja selbst kinematografische Kunst ist und als Werk Assayas‘ und als Sympathisierung der 68er-Bewegung zumindest latent links intendiert ist. Als biografisch angehauchter Geschichtsfilm ist er zudem ein Hybrid aus Dokumentation und Fiktion, erzählt jedoch mit klaren fiktiven Erzählformen, die der Protagonist Gilles bevorzugt. Von revolutionärem kinematografischen Stil kann beim Film selbst jedoch nicht die Rede sein. Vielleicht versackt auch deswegen die Diskussion, wie denn eine solche Syntax auszusehen habe.
Der Anspruch, alles zu zeigen
Gilles lehnt den propagandistischen Stil des Filmer-Kollektivs jedenfalls ab und diese die Vorstellungen Gilles: „Wir machen nur Agitationsfilme. Auf keinen Fall Fiktion.“ und „Man kann in revolutionären Zeiten kein Unterhaltungskino mehr machen.„. Die Wege trennen sich und mit ihnen auch die Wege zwischen Gilles und seiner zweiten Freundin Christine. In „Après Mai“ definieren sich Liebe und Zusammenhalt durch die Deckungsgleichheit von Überzeugungen. Wenn sich kein Konsens mehr einstellt, trennen sich die Wege. Als sich beide wiedersehen, wird gerade einer der Kollektiv-Filme im kommerziellen Kino ausgestrahlt. Die gelangweilten Zuschauerblicke sind in soweit Kommentar zur 68er-Generation, dass die europäische Linke innerhalb kapitalistisch-regierten Länder auch viel von gelangweilten Teenagern aus gutem Hause hatte, die den Kampf der Ideologien für eine jugendliche Selbsterfüllung missbrauchten und die wahren Probleme nur in Büchern lasen und auf Bildschirmen betrachteten. Hier wird der Film zudem sehr konkret, indem er den Übergang in die Hippie-Kultur zeigte, in der auf einmal nicht mehr über politische Sachverhalte, sondern nur noch über Drogentrips gesprochen wird. Die erste Freundin von Gilles, Laure, symbolisiert den hedonistisch-eskapistischen Charakter, der stark in das Unpolitische hineingeht. Die epische Breite und der Anspruch, alles an der 68er-Generation in einen Film zu packen, kann man „Après Mai“ auch als Selbstgefälligkeit und Schwäche auslegen, aber für mich macht es diesen Film zeitlos und grandios.
Ein Meisterwerk des Zeitkolorits
Einzig die etwas schlampige Überlagerung in den politisch-extremen, zur Gewalt bereiten linken Untergrund funktioniert im Film nicht reibungslos. „Kunst ist Rückzug.“ teilt Gilles ein ehemaliger Klassenkamerad mit, man müsse für die Freiheit kämpfen. Aber nach einer einzigen ausgeführten linksextremen Aktion entscheidet sich Gilles doch für ein Praktikum bei einer britischen Produktionsfirma, die einen Trashfilm dreht und somit jegliche Ansprüche nach einer revolutionären Syntax ad absurdum führt. Gilles wird erwachsen und nicht alle seine Ideale konnten erfüllt werden oder ihm eine Erfüllung geben. Natürlich steckt da auch eine Menge der Person Olivier Assayas mit, aber auch genügend in alle möglichen Richtungen zerdenkbarer Zeitkolorit. Und das macht diesen Film zu einem reichen Werk, dass klar von lustlosen Geschichtsfilmen abzugrenzen ist.
„Après Mai“ ist ein anspruchsvolles Drama, das zu einem eigentlich ausdiskutiertem Thema — der 68er-Generation — noch etwas zu sagen hat, indem es einfach alles sagt. Nicht jeder wird sich vollends für den Film begeistern können, denn das Herzstück ist ein ausgeklügeltes Drehbuch, dem eine Ausformulierung jeder erzählerischen Fragmente weniger wichtig als eine konsequente Artikulation von Gefühl und Ideologie einer Generation, samt aller Nuancen und Widersprüchlichkeiten ist.
84%
Bildrechte aller verlinkten Grafiken: © MK2 Productions / France 3 Cinéma / Vortex Sutra / EuroVideo
4 thoughts on “Something In The Air (mediumshot)”