Das Beobachten des Leaudschen Ganges
Originaltitel: Le Maman Et La Putain
Alternativtitel: Die Mama und die Hure
Produktionsland: Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 1973
Regie: Jean Eustache
Drehbuch: Jean Eustache
Bildgestaltung: Pierre Lhomme
Produktion: Vincent Malle, Bob Rafaelson
Montage: Denise de Casabianca, Jean Eustache
Darsteller: Bernadette Lafont, Jean-Pierre Léaud, Françoise Lebrun
Laufzeit: 219 Minuten
Der Möchtegern-Intellektuelle Alexandre (Jean-Pierre Léaud) philosophiert sich durch den Pariser Sommer. Die meiste Zeit verbringt er in Cafés, wo er sich vor allem am Klang der eigenen Stimme berauscht und mit Freunden über Filme und Literatur diskutiert. Er führt eine offene Beziehung mit Marie (Bsternadette Lafont). Obwohl sie als Paar zusammenleben, akzeptieren sie gelegentliche Affären des Partners. Eines Tages lernt Alexandre in einem Café am Saint-Germain-des-Prés die junge Krankenschwester Véronika (Françoise Lebrun) kennen und verliebt sich in sie. Fortan pendelt er zwischen den beiden Frauen hin und her und es entwickelt sich eine Dreiecksbeziehung zwischen Melancholie und Erstarrung, die das unverbindliche Verhältnis zwischen Alexandre und Marie auf eine harte Probe stellt …
Quelle: filmstarts.de
Replik:
Jean Eustache, der Regisseur, der im zarten Alter von 42 Jahren Selbstmord beging, hinterlässt neben einigen Kurzfilmen und einem Dokumentarfilm immerhin zwei Spielfilme, von denen sein Debütfilm „The Mother And The Whore“, zu den Kernwerken der Nouvelle Vague gezählt wird. Der solche ist, wenn auch kein Wende- oder gar ein Endpunkt, doch so etwas wie ein Scharnier, ein in alle Richtung bewegliches Zentrum der Nouvelle Vague. Ein Film, der alle Elemente der Nouvelle Vague — das Politische, Intellektuelle und Erotische — nimmt und einer Zwischenprüfung unterzieht. Ein Film, der in alle Richtungen offen ist. In seiner Form bewusst unendgültig, reich an Verbeugungen und Zitaten, aber auch bewussten Verzerrungen und Verzähungen. Man kann aus diesem reichen Werk eine Menge Rohstoffe herausschlagen, sich inspirieren lassen. Sollte dann aber auch die Bereitschaft mitbringen, sich dreieinhalb Stunden ohne Pause in diese außerordentliche Arbeit zu vertiefen. Es sind nämlich genau diese richtungslose, mäandernde Erzählweise, die Eustache hier auch nutzt, um Ausdruck einer ganzen Generation zu sein.
Für dieses Projekt konnte Eustache den schon damals weltberühmten Jean-Pierre Léaud als Hauptdarsteller gewinnen. Léaud ging 1973 schon auf die 30 zu, hatte aber immer noch die Bubenhaftigkeit eines Spätpubertären. Eustache macht mit Léaud ebenso wie mit den weniger bekannten restlichen DarstellerInnen des Casts Bemerkenswertes. Fast dokumentarisch untersucht er immer wieder das Kleine und Persönliche. Dialoge sind endlos und umkreisen absurde Details. Einmal sehen wir Léauds Figur Alexandre wie er gerade versucht seine Ex-Freundin Geraldine zurückzugewinnen und dann von ihr abgewiesen wird. Anstatt, dass der Film sich jetzt mit diesem dramatischen Ergebnis („Abblitzen“) zufriedenstellen würde und zur nächsten Szene übergehen würde, beobachtet Eustache noch einige Sekunden Léaud beim Gehen. So als sei Eustache ein euphorischer Fan Léauds, der sich für jede kleine Eigenheit des Schauspielers mit einer kindlichen Freude interessiert. Möglicherweise war Eustache (der auch als Autor für die Cahiers du Cinéma aber eine Generation später arbeitete als der Léaud-Entdecker François Truffaut) selbst auch ein kindlicher Verehrer seines eigenen Darstellers, aber das ändert nichts von der Größe der filmischen Geste. Durch das Beobachten des Léaudschen Ganges wird tatsächlich die Gehweise Léauds deutlich, die sich sonst ziemlich sicher unter der Konventionalität dramatischer Grammatik (Abgang, Ende) begraben würde. Gerade das Gehen des Menschen ist ja so individuell wie seine Handschrift. Dieses frühe Beispiel im dreieinhalbstündigen Werk ist natürlich nur eines unter vielen, die die besondere Beobachtungsgabe und Eustaches besonderen Blick auf das Menschliche exemplifiziert.
Léaud, der in seinem Gesicht immer gleichzeitig Jugendlicher und Erwachsener ist, ist auch deshalb eine brillante Besetzung, weil Eustache hier bewusst ein um eine gewisse Vollständigkeit bemühtes Generationsporträt ansetzt und mit Léaud dafür ein Gesicht gefunden hat. Ein Gesicht, das gleichzeitig erwachsen ist, aber auch nicht aufzuhören scheint, zu erwachsen. Eustache porträtiert hier eine Generation an jungen Erwachsenen, die die Errungenschaften der unlängst zurückliegenden 68er-Emanzipationen versucht, in ihre Konzeption des Erwachsenseins einzubinden. Dabei aber eben noch unbeholfene Jugendliche bleiben. In ihrem Tun zeichnet sich Prätention ab, so wie Alexandre im Café immer Marcel Proust liest, aber dann doch von etwas abgelenkt wird, das ihm wichtiger ist. In ihrem Tun zeichnet sich Unsicherheit und Orientierungslosigkeit ab. Und vor allem im frisch revolutionierten Sexualdispositiv freier promisker Liebe, samt hemmungsloser Verbalisierung derselben, zeichnet sich diese Unsicherheit ab. Das ist, insofern, auch der Fokus den „The Mother And The Whore“ setzt. Er untersucht die Generation der frühen Pariser 70er-Jahre durch ihre Sexualpraktiken hindurch.
Berühmt ist „The Mother And The Whore“ wahrscheinlich für seine explizite Thematisierung von Sexualität geworden. Die Kamera wird nie pornografisch. Grenzen, die Eustache noch mit einer selbstverständlichen Distanz beibehält, wurden auch 1973 schon längst übertreten oder penetriert. Wo der Film aber für seine Entstehungszeit von „porn-esker“ Explizität ist, ist in seinem reinen Diskurs-Charakter. Gesprochen wird über Sex viel und mit provokanter Beiläufigkeit. Wo und mit wem und wie oft. Hart oder zärtlich. Und mit wie vielen? Und mit wie vielen gleichzeitig? Allerdings merkt man, dass Sex als das „Gesprochene“ eben doch etwas Neues und Spannendes für die porträtierte Generation gewesen ist. Und man spürt trotz oder wegen der von-sich-selbst-erwarteten Beiläufigkeit aus den Figuren eine Aufregung heraus. Es ist eben doch keine Beiläufigkeit, sondern ein selbsterkanntes Distinktionsmerkmal gegenüber früheren Generationen. Ein Lebensgefühl einer Generation. Liebe verkommt hier zu einer Art Anachronismus, der aber immer wieder doch Teil des Diskurses wird. Und am Ende des Films vielleicht sogar dessen traurige Pointe. Es gibt keinen Sex ohne Liebe. Jedenfalls keinen guten.
Betrachtet man „The Mother And The Whore“ in seinem Skulpturcharakter, also als Bündel dramatischer und epischer Strukturen (Handlungssträngen, behandelten Motiven) und filmhandwerklicher Herangehensweisen (Kameraarbeit, Schnitt, Rhythmus, Ton, Musik) dann bemerkt man zunächst einmal: es gibt keine klare Richtung. Keinen klassischen Bogen, der sich durch eine treibende Handlung oder Figurenentwicklung entfaltet. Immer mal wieder gibt es Episoden, die so etwas andeuten (etwa das ziemlich dynamische Kennenlernen Alexandres mit Veronika), aber es wird dann immer wieder entschleunigt, auf mehrere Figurenschultern verteilt, von Inseln langer Monologe im Schlafzimmer unterbrochen usw. Aus dem Material hätte man in jedem Fall auch eine Schnittfassung fertigen können, die den Ansprüchen klassischer Zuschauererwartung genügen würde und man muss Jean Eustache hier völlige Absicht unterstellen, diese Absicht nie gehabt zu haben. Nur wohin will Eustache mit seiner sperrigen, insularen Form, die dann noch in einem völlig ratlosen Ende gipfelt, in dem ein Jean-Pierre Léaud erschöpft auf dem Fußboden sitzt? Die Interpretation liegt nahe, dass „The Mother And The Whore“ Rat- und Orientierungslosigkeit der Post-68er-Generation einen filmischen Ausdruck verleihen will. Das Geniale des Films ist aber sicherlich noch nicht die (so oder so auf viele Weise zu erreichende) Antidramatik des Films, sondern einzelne Momente, die partikularen Hin- und Zurückbewegungen der drei Liebenden in diesem (auch das ist ein Kommentar auf die Vorbilder der Nouvelle Vague) überdurchschnittlich-weiblichen Ménage-à-trois und die Liebe, die sich darin immer mal wieder ausdrückt und die noch auf der Suche nach ihrer Verbalisierung ist, zwischen all dem fickenfickenfickenfickenTampaxCocaColafickenficken.
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