118 Releases von 2020 im Rückblick.
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2020 war kein Jahr, das im Zeichen des Films stand und noch weniger stand es im Zeichen des Kinos. Zumindest nicht, wenn man das Kino als eine Zeitbühne versteht. Mit einer Produktionszeit zwischen einem und drei Jahren ist der Spielfilm ein zu träges Medium, um nur annähernd die Ereignisse rund um die Weltzäsur COVID-19 rechtzeitig abzubilden. Die filmische Rezeption des Corona-Virus steht noch aus. Sowohl für Filmproduktionen als auch -Festivals war 2020 ein reines Ungewissen. Drehzeiträume wurden topediert; verschoben, nur um dann wieder verschoben zu werden. Kino-Releases waren eine noch unsichere Bank, als sie es ohnehin 2019 schon waren. Die großen Festivals mussten abwägen, ob eine Absage oder das riskante Durchwinken unter strenger Sicherheitsvorlagen die größere Katastrophe darstellt. Eine noch gar nicht abschätzbare Menge an Filmen blieb in der Einreichungspipeline stecken. Und wenn Festivals stattfanden, fühlten sie sich falsch oder zumindest unvollständig an. Berlin fand zeitgleich mit dem Durchbruch des Virus in Italien statt, Venedig riskierte als Großevent im Frühherbst eine zweite Welle. Cannes fiel dem Virus vollständig zum Opfer. Die Jury-Entscheidungen mussten sich dabei zwangsläufig in Irrelevanz überbieten. In Berlin zeichnete man unter der neuen Führung von Carlo Chatrian den dritten iranischen Dissidentenfilm innerhalb eines Jahrzehnts aus, in Venedig interessierte man sich für Armut in den USA . Beides wirkte angesichts der tatsächlichen globalen Lage, obwohl nicht einmal zwingend unaktuell, seltsam aus der Zeit gefallen. Wie das Workout, das Business-Meeting oder das Musikkonzert fand auch das Kino 2020 überwiegend zuhause statt und eröffnete damit womöglich einen unfreiwilligen Blick auf die Zukunft. Denn im Gegensatz zu den zuvorgenannten Aktivitäten war der Kino-Besuch immer schon eine solche, deren sozialer Aspekt eher eine (schöne) Begleiterscheinung und nicht dessen unbedingte Essenz war. Will sagen: Das Kino transformiert sich durch VoD ohnehin schon zunehmend ins Schlafzimmer und 2020 könnte sich als entscheidende Sterbehilfe des Kinos in seiner alten Form erweisen. Ich prognostiziere, eine zukünftige Zweiteilung der Filmkultur in das Film-Festival als Ort echter Begegnung und filmkultureller Diskursivität (das aber vorwiegend ein urbanes und bourgeoises Nischen-Phänomen ähnlich dem Theater werden dürfte), sowie dem Stream-Kino als Bewegtbildbühne der breiten Bevölkerung. Eigentlich vergleichbar der Musik, wo Konzertbesuche und Heimkonsum seit Jahrzehnten gut neben einander funktionieren. Wo früher eine Verabredung mit dem Ticketschalter über eine bestimmte Zeit stand, wird darüber hinaus die permanente Verfügbarkeit des Mediums auch zu einer Verflüssigung und vielleicht gar Atomisierung dessen führen, was man aktuell noch als „filmische Form“ betrachtet. Man sollte das Sterben des öffentlichen Ortes Kino, wie wir ihn kannten, aber unbedingt eher als Chance begreifen. Es bleibt uns auch gar nicht viel anderes übrig. Ich werde im Laufe des Jahres noch einen Artikel darüber schreiben. Was bleibt ist ein Jahr, das filmisch unfreiwillig nie mehr war als die Retrospektive auf vorherige Jahre. Selbst die Filme mit 2020er-Releasedatum waren zeitgeistige Kinder der späten 2010er Jahre. Abgesehen von „DAU.“, der in dieser Liste mit einem ziemlichen Abstand zum Restfeld zu verstehen ist, war 2020 kein Jahr großartiger neuer ästhetischer Perspektiven. Es passt irgendwie, dass die einzige Sensation des Kinos, fast unbemerkt blieb. Ohne Festival-Marathon und VoD-Lobby blieb die große Kontroverse um „DAU.“, um dieses garstige Monstrum, aus. Dabei stellte „DAU.“ spannende Fragen, darüber was Kino sein kann oder viel mehr darf. Und wie man mit etwas umzugehen hat, das möglicherweise falsch, aber jedenfalls schon da ist. Unterteilt in vielleicht zehn, vielleicht zwanzig Episoden einer Netflix-Miniserie wäre „DAU.“ wohl viral gegangen.
No! 118. „Landrauschen“ (Lisa Miller, 2018) 117. „A Hidden Life“ (Terrence Malick, 2019) 116. „Mein Ende. Dein Anfang“ (Mariko Minoguchi, 2019) 115. „1917 “ (Sam Mendes, 2019) 114. „Berlin Alexanderplatz“ (Burhan Qurbani, 2020) 113. „Cops“ (Stefan A. Lukacs, 2018) 112. „Irradiated“ (Rithy Panh, 2020)
Die massiven handwerklichen Schwächen von „Landrauschen“ — insbesondere im Schauspiel — lassen sich nur dann positiv umdeuten, wenn man die Konzeption eines „neuen Heimatfilms“, wie er Lisa Miller vorschwebt, als Ganzes affirmiert und seine Schwächen damit zu charmanten Eigenheiten (v)erkennt. So wohl geschehen, 2018, auf dem Max-Ophüls-Preis. Ich sehe aber bereits ihre Heimatfilm-Konzeption als kritisch an. Diese versucht nämlich erst gar nicht, eine Brücke zwischen urbanem Individualgedanken und dem Konservativismus des schwabenbayerischen Dorfes zu schlagen, sondern betreibt im Grunde eine reversierte Kulturrevolution. Mit verächtlichen Klischees dörflicher Rassismen und Sexismen rechtfertigt sie einer unfreiwillig unsympathischen und reflexionslosen Hauptfigur zur selben belehrenden Haltung gegenüber dem politisch Entgegengesetzten, wie es ohnehin schon oft genug im Kino zu sehen ist. Dafür braucht es keinen neuen Heimatfilm.
Rather not. 111. „Little Women“ (Greta Gerwig, 2019) 110. „There Is No Evil “ (Mohammad Rasoulof, 2020) 109. „Innocent Witness“ (Lee Han, 2019) 108. „Youth“ (Lula Ali Ismaïl, 2018) 107. „Chiwawa“ (Ken Ninomiya, 2019) 106. „Surge“ (Aneil Karia, 2020) 105. „Happy Old Year“ (Nawapol Thamrongrattanarit, 2019) 104. „I’m Thinking Of Ending Things“ (Charlie Kaufman, 2019) 103. „School’s Out“ (Sébastien Marnier, 2018)
Als Mobile zwischen Darstellung des historischen Gegenstands und Selektionsgrund ebenjenes, verweisen Historienfilme immer reziprok sowohl in dargestellte Vergangenheit und darstellende Gegenwart. Das politische Historiendrama hat es dabei in den letzten Jahren zu einem sehr beliebten Vehikel geschafft, politische Statements der Gegenwart mit (mal mehr, mal weniger strenger) historischer Wiedergabe zu verbinden („Angelo“, „Portrait Of A Lady On Fire“, „Amour Fou“ usw.). Diese Verbindung stellt die Frage nach der historischen Selektion neu. Es mag zwar innerhalb der dargestellten Epoche von „Little Women“ relevant gewesen sein, dass eine Frau ein Roman über sich und ihre bürgerlichen Schwestern veröffentlicht, als Ermächtigungsmotivation für die Gegenwart bleibt es aber dünn und auf dem Klassenauge blind. Will ich, dass eine bürgerliche Hauptfigur, die gefühlt alle Privilegien (ökonomischer, kultureller und sogar sozialen Art) bereits am Anfang des Ziels hat, um ihr Ziel zu erreichen, ein Buch über die Einzelschicksale ihrer bürgerlichen Schwestern veröffentlicht, deren Belanglosigkeit und Zerfaserung der Film uns dann noch über zwei Stunden lang aufgibt? Ich weiß nicht. Eher nicht.
Mhmmm. 102. „Those Who Remained“ (Barnabás Tóth, 2019) 101. „Was bleibt“ (Clarissa Thieme, 2020) 100. „Isabella“ (Matías Piñeiro, 2020) 099. „Liebesfilm“ (Robert Bohrer & Emma Rosa Simon, 2018) 098. „Waiting For The Barbarians“ (Ciro Guerra, 2019) 097. „The Man From The Sea“ (Kōji Fukada, 2018) 096. „Young Ahmed“ (Luc Dardenne & Jean-Pierre Dardenne, 2019) 095. „The Painted Bird“ (Václav Marhoul, 2019) 094. „Babyteeth“ (Shannon Murphy, 2019) 093. „The Hunt“ (Craig Zobel, 2020) 092. „Enfant Terrible “ (Oskar Roehler, 2020) 091. „Nackte Tiere“ (Melanie Waelde, 2020) 090. „Kahlschlag“ (Max Gleschinski, 2018) 089. „76 Days“ (Hao Wu & Weixi Chen, 2020)
Einige hochveranlagte Filme haben sich dieses Jahr als enttäuschend erwiesen. „Young Ahmed“ fühlte sich an, wie man sich einen Film über Islamismus aus der Feder zweier weißer alter Männer im schlimmsten Fall vorstellt. „The Painted Bird“ war eine reine Kunstfilmkalkulation mit seiner Verkettung symbolistisch bemühter Einstellungen und Gastauftritten des Weltkino-Who-is-Whos. „Babyteeth“ sah aus, wie ein Film, den man nicht konsistent inszeniert bekommen hat und im Schnittraum dann mit Unorthodoxie retten wollte. Allgemein war dieser Film merkwürdig um Unorthodoxie bemüht; scheinbar, um seiner Geschichte einen Hauch „Absurdität des Realen“ zu verleihen. Ihr Scheitern hierin (das für sehr viele Zuschauer kein Scheitern war) ist aber spannend und stellt jeden, der selbst Regie-Ambitionen hat, vor die Frage, ob es einem denn besser gelingen würde.
Yayy. 088. „Moffie“ (Oliver Hermanus, 2019) 087. „Days“ (Tsai Ming-Liang, 2020) 086. „Where We Belong“ (Kongdej Jaturanrasmee, 2019) 085. „Uppercase Print“ (Radu Jude, 2020) 084. „Idioten der Familie“ (Michael Klier, 2018) 083. „Light In The Tropics“ (Paula Gaitán, 2020) 082. „Swimming Out Till the Sea Turns Blue“ (Jia Zhangke, 2020) 081. „All The Dead Ones“ (Marco Dutra & Caetano Gotardo, 2020) 080. „Cuties“ (Maïmouna Doucouré, 2020) 079. „The Virtues“ (Shane Meadows, 2019) 078. „In The Dusk“ (Sharunas Bartas, 2019) 077. „DAU. Nora Mother“ (Ilya Khrzhanovsky & Jekaterina Oertel, 2020) 076. „Take Me Somewhere Nice“ (Ena Sendijarević, 2019) 075. „From Miyamoto To You“ (Tetsuya Mariko, 2019) 074. „Ema“ (Pablo Larraín, 2019) 073. „Genus Pan“ (Lav Diaz, 2020) 072. „Roads“ (Sebastian Schipper. 2019) 071. „Sibyl“ (Justine Triet, 2019) 070. „Tenet“ (Christopher Nolan, 2020) 069. „Malmkrog“ (Cristi Puiu, 2020) 068. „Da 5 Bloods“ (Spike Lee, 2020)
Cristi Puiu gehört für mich zu den talentiertesten Filmschaffenden auf diesem Erdenrund, weswegen „Malmkrog“ wohl der am heißest erwartetste Film des Jahres für mich war. Hiermit fügt er seiner Filmographie wohl das bislang irritierendste Moment hinzu (bislang war es natürlich „Aurora“). Mit einer möglichst getreuen und realistischen Adaption eines philosophischen Textes (!) stellt Puiu sich eine Inszenierungsherausforderung an sich selbst. So befriedigend das Gespräch mit Puiu für mich persönlich war , da er den Film auf dieselbe Weise verstanden haben wollte, wie ich ihn auch verstanden hatte, so sehr war diese sperrige drei-stündige Französisch-Konversation auch einfach nicht mein Film. Kann passieren.
Alright! 067. „Welcome To Chechnya“ (David France, 2020) 066. „7500“ (Patrick Vollrath, 2019) 065. „Jumpman“ (Ivan I. Tverdovskiy, 2018) 064. „The Platform“ (Galder Gaztelu-Urrutia, 2019) 063. „Nocturnal“ (Nathalie Biancheri, 2019) 062. „Nomadland “ (Chloé Zhao, 2020) 061. „Corpus Christi“ (Jan Komasa, 2019) 060. „Futur Drei“ (Faraz Shariat, 2020) 059. „I Am Greta“ (Nathan Grossman, 2020) 058. „Red Post On Escher Street“ (Shion Sono, 2020) 057. „It Feels So Good“ (Haruhiko Arai, 2019) 056. „Too Late To Die Young“ (Dominga Sotomayor, 2018) 055. „Vitalina Varela“ (Pedro Costa, 2019) 054. „Undine“ (Christian Petzold, 2020) 053. „Paper Flags“ (Nathan Ambrosioni, 2018) 052. „We Are Little Zombies“ (Makoto Nagahisa, 2019) 051. „Servants“ (Ivan Ostrochovský, 2020) 050. „Another Round “ (Thomas Vinterberg, 2020) 049. „Voices In The Wind“ (Nobuhiro Suwa, 2020) 048. „Monsters.“ (Marius Olteanu, 2019) 047. „Bad Tales“ (Damiano & Fabio D’Innocenzo, 2020)
2020 habe ich mit vierzehn Filmen japanischer Regisseure wohl diesbezüglich einen persönlichen Rekord aufgestellt. Was mir am modernen japanischen Kino auffällt, ist zweierlei: Einerseits eine beneidenswert unbändige Lust am erzählerischen Wagnis, aber andererseits auch eine handwerkliche „Wurschtigkeit“, eine ästhetische Dahinproduziertheit, die viele der Filme im Ineinandergreifen von Form und Inhalt unterkomplex machen. Shion Sono steht für dieses Phänomen natürlich wie kein zweiter, produziert er doch pro Jahr zwischen zwei bis fünf Filmen. Ein Film wie „Red Post On Escher Street“ könnte man in Europa nicht produzieren. So nah wie hier Genie und Wahnsinn liegen ist das (vor allem) im Guten, wie (aber auch) im Schlechten gemeint.
Honorable Mentions 046. „Bait“ (Mark Jenkin, 2019) 045. „When They See Us“ (Ava DuVernay, 2019) 044. „Umrember“ (Flávia Castro, 2018) 043. „Les Misérables“ (Ladj Ly, 2019) 042. „The Cat And The Moon“ (Alex Wolff, 2019) 041. „Careless Crime“ (Shahram Mokri, 2020) 040. „J’accuse“ (Roman Polański, 2019) 039. „The Truth“ (Hirokazu Koreeda, 2019) 038. „Ein freiwilliges Jahr“ (Ulrich Köhler & Henner Winckler, 2019) 037. „The Disciple“ (Chaitanya Tamhane, 2020) 036. „Last Letter“ (Shunji Iwai, 2020) 035. „Wintermärchen“ (Jan Bonny, 2018) 034. „We The Animals“ (Jeremiah Zagar, 2018) 033. „House Of Hummingbird“ (Kim Bora, 2018) 032. „Uncut Gems“ (Ben & Joshua Safdie, 2019) 031. „The Woman Who Ran“ (Hong Sang-Soo, 2020) 030. „Song Without A Name“ (Melina León, 2019) 029. „Shirley“ (Josephine Decker, 2020) 028. „DAU. Natasha“ (Ilya Khrzhanovsky & Jekaterina Oertel, 2020) 027. „Tiger King: Murder, Mayhem And Madness“ (Eric Goode & Rebecca Chaiklin, 2020) 026. „At War“ (Stéphane Brizé, 2018)
Die Top 25 der besten Filme 2018
025. „The Lost Okoroshi“ (Abba Makama, 2019)
Nollywood, das ist ein beliebter Funfact unter Filmkennern, ist den reinen Output betreffend die zweitgrößte Filmindustrie der Welt. Die nigerianischen Filmproduktionen beschränken sich aber fast ausschließlich auf schlechte Imitat-Produktionen und Daily-Soaps, festivalrelevant ist das westafrikanische Land kaum. Das Besondere an „The Lost Okoroshi“ ist nicht, dass er eine solche Ausnahme darstellt, sondern wie er das tut. Er ist nämlich eine organische Verbindung von Genrezismen des Nollywood-Trashs und einem kanonisierten Festival-Arthouse. In Schnitt, Kamera- und Schauspielführung verleugnet er dabei niemals den lustvollen Hang zum Okkultismus und unverschämter Blödsinnigkeit.
024. „One Of These Days“ (Bastian Günther, 2020)
Der deutsche Regisseur Bastian Günther hat in den USA einen Film über die USA gedreht, der sich nahtlos in die Highlights eines „Trump Kinos“, eines amerikanischen Sozialkinos, neben „American Honey“ oder „Florida Project“ einordnen lässt. Hierin wird ein Truck an denjenigen Teilnehmer oder Teilnehmerin verschenkt, der am längsten die Hand auf ihm behält. Dafür müssen die Contenders die Hitze der Karosserie an ihren Händen ertragen und dürfen nicht einschlafen. Sprich: sie riskieren ihre Gesundheit für ein turbokapitalistisches Konzept, das dann zu allem Überfluss von einem regionalen Radiosender auch noch medial ausgeschlachtet wird. Ein nicht einmal subtiles, aber absolut triftiges Brennglasbild der amerikanischen Leistungsgesellschaft, die sich nur noch über Abstufungen der Armut zu definieren scheint. Keine Frage, dass Günthers Film krachend und tragisch enden muss. Warum der Film aber nicht „Hands On“ heißt, verstehe ich nicht. Das wäre der naheliegendere Titel gewesen.
023. „Lord Of The Toys“ (Pablo Ben-Yakov, 2018)
Ein bisschen verspätet kam ich dazu, „Lord Of The Toys“ von Pablo Ben-Yakov zu sehen, daher ist die diskursive Einordnung dieses Dokumentarfilms natürlich hoffnungslos unaktuell. Und dennoch: Die unkommentierte Darstellung von Dresdner YouTubern am äußersten rechten Rand ist einer der wichtigsten deutschen Filme des Jahrzehnts. Die kontroverse Hauptpreis-Auszeichnung beim DOK Leipzig eine mutige und richtige Entscheidung. Hier geht es gar nicht primär um Rechtsextremismus, wie es der Aufregung um den Film nahelegen würde, es geht um die Suche nach Identifikation in Perspektivlosigkeit. Genau so wie das Kokettieren mit rechten Witzen und Sprüchen dient auch die Identität des „ostdeutschen Asis“ — schlichtweg also materialistische und soziale Armut — den dokumentierten Jugendlichen als Erklärungsansatz ihrer selbst. Wer das nicht sehen will (und der Film bietet die schön-neutrale Möglichkeit dazu) und Max Herzberg Adlersson auf seine zweifellos problematische politische Gesinnung reduziert, sie ferner von der Repräsentationsbühne stoßen will, macht den Fehler, die Echokammern weiter verhärtern zu lassen.
022. „My Thoughts Are Silent“ (Antonio Lukich, 2019)
„My Thoughts Are Silent“ ist nicht einmal die einzige Komödie die sich mit der Kommerzialisierung des (post)sozialistischen Elends auseinandersetzt und doch ist „My Thoughts Are Silent“ eine Film-Praline mit Seltenheitswert. Ein junger Ukrainer verdingt sich in einem der „einzigen funktionierenden Exportgewerben des Landes“: er nimmt Geräusche von Tieren auf und verkauft die Samples an Computerspielehersteller u.Ä. Postsozialistische Tiere klingen einfach ein bisschen elendiger als andere Tiere. Ein Film, über eine Gesellschaft, die sich über ihren eigenen Miserabilismus definiert.
021. „Technoboss“ (João Nicolau, 2019)
Ein älterer Herr, ein Installateur für Sicherheitssysteme, nimmt den Hörer ab (er tut das eigentlich nicht wirklich, „Technoboss“ erzählt Telefonieren grundsätzlich ohne sichtbares Telefon) und dann singt er. Sehr lange. Er hat eine Hasenscharte und ist auf der Suche nach einer Frau, die ihm seine Einsamkeit ein bisschen erträglicher macht … okay? Ja, das ist die Handlung von „Technoboss“. Die Anordnung von skuriller Situationen eines einsamen alten Helden und (wirklich guter) Songs erinnert ohne Qualitätsabstriche an Roy Andersson.
020. „It’s Boring Here, Pick Me Up“ (Ryuichi Hiroki, 2018)
Eine junge Frau kommt aus Tokio zurück in die Kleinstadt ihrer Jugend mit der Erwartung, dort den damals coolsten Jungen der Stadt wiederzusehen. Natürlich ist alles ein bisschen anders als erwartet. Dieses Ein-Bisschen-Anders ist im Grunde der erzählerische Modus von „It’s Boring Here, Pick Me Up“ — eine Mischung aus Moodpiece und verschachtelt erzähltem Stadtporträt. Ein inspirierender Drehbuchfilm.
019. „Violence Voyager“ (Ujicha, 2018)
Die Handlung von „Violence Voyager“ bedient sich einer nachtmährschen Logik; angefangen mit einem lustigen Bergspaziergang des kleinen Bobbys, über den Eintritt in eine shady Spielzeugwelt, bis hinzu … einem geisteskranken Einzelgänger-Weirdo, der Kinder mit Säure abspritzt und aus ihnen roboterähnliche Wesen mit Monitoraugen herstel-?, — did I just dream it? Durch die Tatsache, dass es sich hierbei noch um einen Cartoon mit einer ganz eigenen freeze-framigen Animationstechnik (inklusive echter Flüssigkeiten!) handelt, arrangiert Ujicha Seherfahrungen hier neu. Und sorgt allein dadurch für Unverarbeitbares und potenzielle Traumata.
018. „Fourteen“ (Dan Sallitt, 2019)
„Fourteen“ ist pretty much ein Film über Freundschaft, nicht nur in seiner situativen Schönheit, sondern seiner gesamten Komplexität. Gerade die Freundschaft in Zeiten des Erwachsenwerdens beleuchtet Sallitt eindrucksvoll aus seinen Figuren heraus. Obwohl die Jugend der Figuren nur als Vorgeschichte mitgeliefert wird, ist das Verhältnis der beiden zu einander jederzeit spürbar. Mara, die immer ein wenig unspektakulärere der beiden Freundinnen, von der Spontaneität und Schmissigkeit ihrer coolen Freundin Jo wohl auch ein bisschen zur Autorinnenkarriere inspiriert. Und Jo, die sich als zunehmend untalentiert daran erweist, so etwas wie Erwachsenwerden produktiv in Angriff zu nehmen. Die Frage nach Verantwortung, Solidarität und mitunter auch emotionaler Last von Freundschaft dringt durch jede Szene dieser unaufgeregt gefilmten, sympathetisch-komischen Indie-Perle.
017. „Farewell Song“ (Akihiko Shiota, 2019)
Auch Akihiko Shiota erzählt in „Farewell Song“ von weiblicher Freundschaft. Sein Film ist ein einziger Trennungszustand dieser Freundschaft und in dessen Mitte wird noch Musik gemacht. Tatsächlich erscheint mir das eine gelungene allegorische Verstärkung für den Trennungszustand einer Freundschaft zu sein: die Auflösung einer Band. Shiotas Film, für den eigens die Band HaruLeo, inklusive dreier Indierock-Songs erfunden wurde, parallelisiert präzis-elliptische Flashback-Momente mit einer Gegenwart, in der Freundschaft vor allem eines ist: Harte Arbeit.
016 „The Trouble With Being Born“ (Sandra Wollner, 2020)
Sandra Wollners zweiter Film ist reines Intellekt-Kino, der mich vor allem für das dankbar macht, was der Film nicht ist. In kühlen, irgendwie plastiziden Bildern und phlegmatischer Dramaturgie ordnet der Film sein ganzes Lustprinzip einem sehr klugen, erörternd-neutralen Nachdenken über künstliche Intelligenz und Körperlichkeit unter: Inwiefern kann ein Androide als Ersatz für menschliche Bedürfnisse herhalten? Die meisten Filmemacherinnen und Filmemacher hätten aus der Prämisse — gerade angesichts der Thematisierung von Pädophilie — wohl eine moralistische Einordnung in gute und böse Nutzart der Technologie gemacht, samt durchschaubarer zirkulärer Dramaturgie. Wollners Film ist betont unzirkulär. Der Androide geht weiter seines Wegs; wohin, das wissen wir nicht. Jedenfalls nicht dorthin, sich als moralischer Agent geläutert (zum Mensch geworden) bei seinen Ausbeutern zu rächen. Das wäre auch zu naiv gewesen.
015. „Summer Survivors“ (Marija Kavtaradzė, 2018)
Drei Menschen sitzen zusammen in einem Auto: eine junge Psychiaterin, sowie zwei ihrer Patientinnen; der eine bipolar, die andere depressiv. Der litauische Film „Summer Survivors“ interessiert sich genau hierfür: Eine provisorische, irgendwie zufällige Dreisamkeit und das Momentum dieser Begegnung. Man kennt es vielleicht, wenn man jemandem begegnet — nur für ein paar Stunden — und diese Begegnung einem eben so schnell wieder aus dem Leben weicht und doch etwas passiert ist. Etwas ausgelöst wurde, durch den Einblick in das Andere oder auch nur die Idee, die man von der anderen Person bekommen hat. Genau dieses Phänomen transponiert Marija Kavtaradze in ihrem wunderbaren kleinen Roadmovie. Und das ist, in ihrer unaufgeregten Kleinheit, eine wirklich große Leistung.
014. „Sorry, We Missed You “ (Ken Loach, 2019)
Man könnte wohl sagen: „Sorry, We Missed You“ ist der (bislang) letzte neorealistische Film. Loach dreht in einer ganz einfachen, kargen Filmsprache, mit Laiendarstellerinnen und reduziert auf seine politische Aussage. Seine Kritik am Neoliberalismus ist brandaktuell, die Wahl seiner filmischen Mittel dafür einerseits adäquat, andererseits fehlt ihm auch so etwas wie einen formalistischen Link zum Zeitgeist. Sodass dieser Film leider keinen Hype in Form von (dringend benötigten) Ko-Apologeten auslösen wird. Ein sterbendes Tier im filmischen Diskurs. Wir werden ihn vermissen.
013. „Dark Waters“ (Todd Haynes, 2019)
„Dark Waters“ ist auf eine ganz andere Weise ein Film der einfachen Leute. Der Chemie-Konzern DuPont und die amerikanische Regierung werden hier mit schweren Vorwürfen der wissentlich schweren Gesundheitsgefährdung und Vertuschungsversuchen belastet. Das politische Anliegen ist unmittelbar und wütend, die filmische Form selbst bleibt dabei aber so kühl-überlegt und stoisch wie seine Hauptfigur. Das brillante Drehbuch spielt nie Figuren gegeneinander aus oder versucht Konflikte des Unterhaltungswertes wegen vom Zaun zu brechen, sondern bleibt immer seriös und fair beim Großen und Ganzen des politischen Anliegens — wie ein Anwalt. Haynes ist im besten Sinne gemeint hier Anwalt der kleinen Leute, Anwalt des Publikums. Und Aufklärer über einen verächtlichen Neoliberalismus, dessen Gift die Tapfersten immer am härtesten trifft.
012. „Little Joe “ (Jessica Hausner, 2019)
Zugegeben: Wohl kaum jemand fand „Little Joe“ auf dieselbe Weise gut wie ich. Jessica Hausners englischsprachiges Debüt hinterließ keine große Fanschaft und eher gemäßigtem Applaus gegenüber ihrer Neuauflage des Mistery-Thriller-Klassikers „Invasion Of The Bodysnatchers“. Betrachtet man den Film vordergründig als diesen Genre-Film, dann ja, dann ist „Little Joe“ ein guter, aber nicht herausragender Film. Das Besondere: in seiner Variation des Klassikers lässt sich Hausners Film auf einmal als eine einzigartig präzise Visualisierung von so etwas Bilderlos-Abstraktem wie Diskursphilosophie begreifen. Mehr dazu in meiner Replik .
011. „Waves“ (Trey Edward Shults, 2019)
Trey Edward Shults‘ erst zweiter Spielfilm ist eine alles andere als subtile Machtdemonstration des Regieführens. Große Emotionen, wuchtige Storywendungen und brutale Familiendramatik schlagen wild um sich und fordern eine Fallhöhe ein, die sich Shults zúzutrauen beachtlich ist. Betont universell erzählt „Waves“ von Schicksal, Schuld und Sühne und wagt das kühne Erzählen, in zwei erzählerische Kompartimente geteilt, das eine Leben gegen das andere Leben rebellieren zu lassen und es erst somit verstehen und verzeihen zu können.
010. „Conference“ (Ivan I. Tverdovskiy, 2020)
2002 kam es im Moskauer Dubrowka-Theater zu einer Geiselnahme durch tschetschenische Terroristinnen und Terroristen, bei der insgesamt 130 Menschen ums Leben kamen. „Conference“ von Ivan I. Tverdovskiy beschäfigt sich mit der seelischen Aufräumarbeit dieses russischen Traumas. Eine Familie wurde dadurch zerrissen und in extreme Rollen zersprengt. Die schuldbeladene Mutter ist Nonne geworden, die vorwurfsvolle Tochter psychologisch labil, der Vater sogar ein gänzlicher körperlich wie geistiger Pflegefall. Als Herzsück in dieser etwas koordinatensystemischen Setzung installiert Tverdovskiy nun die erzähl-architektonisch bemerkenswerte Sequenz, in der zu einer Trauerveranstaltung am Original-Ort geladen wird (die aus juristischen Gründen als „Konferenz“ angemeldet werden muss). Tverdovskiy inszeniert Schauspieler mit derselben naturalistischen Profanität, als wären sie Zuschauer in einem Q&A, erweitert damit transmedial auch den Raum in das Kinopublikum hinein. Reale Sitzreihen und ínnerfilmische Sitzreihen liegen gewissermaßen gegenüber und erzeugen somit ein viel größeres Unbehagen, als es ein Reenactment mit Schusswaffen wohl jemals hätte bieten können.
009. „What Is Love?`“ (Rikiya Imaizumi, 2018)
Ich gebe zu: Ich habe diesen Film überhaupt nur gesehen, weil ich einen Crush auf Yukino Kishii habe und eine seichte, schön-traurige Liebesgeschichte erwartet habe. „What Is Love?“ ist jedenfalls weit davon entfernt. Im Grunde beschäftigt sich Rikiya Imaizumi, der als japanischer Indie-Regisseur irgendwo zwischen Hong Sang-Soo und Noah Baumbach verortbar ist, mit dem Thema emotionaler Abhängigkeit und toxischen Beziehungen. Dabei ist der männliche Part, der sich hier toxisch gegenüber dem weiblichen verhält, keinesfalls ein eindimensionales Arschloch, sondern eher so etwas wie eine narzisstische Spielernatur, ein ästhetischer Mensch, der sich in seinen Freiheiten und Unabhängigkeiten ausprobiert und über die Tragweite seines Handelns wohl kaum eine Ahnung zu haben scheint. Imaizumis Film ist nicht wütend auf diese Form von emotional abusement , vielleicht sollte er das sein, vielleicht nicht. Er beobachtet es jedenfalls mit regem Interesse. Dabei gelingen ihm immer wieder Momente, die wohl jeder irgendwie kennt, aber noch nie zuvor im Kino spürbar gemacht bekommen hat. Geschweige denn in einer einzigen Einstellung oder auch nur in einem einzigen Blick.
008. „First Cow“ (Kelly Reichardt, 2019)
Wo nun in der Top25 schon zwei Filme von Männern über Frauenfreundschaften stehen, ist vielleicht ein Film einer Regisseurin über eine Männerfreundschaft geradezu konsequent. „First Cow“ ist ein typisch-reichardtsch zurückgenommen, klein-fein inszenierter Film mit einem wunderbaren Humor. Reichardt geht es nicht um historische Genauigkeit, aber noch weniger um das Gegenteil. Durch kleine märchenhafte Verschiebungen und komödische Verzerrungen sagt Reichardt mehr über das alte, längst vergangene Gründer-Amerika und die Anfänge des Kapitalismus aus, als es eine historische Studie wohl je könnte.
007. „I’m No Longer Here“ (Fernando Frias, 2019)
Netflix produziert mitunter schockierend gute Filme. Der Grund? Aus Prestige-Gründen, im Kunstkino mitreden zu können, lässt man Filmschaffende teilweise „einfach mal machen“, wovon Filmschaffende innerhalb eines öffentlichen Fördersystems nur träumen können. Das mag auf das Gros der Netflixproduktion gerechnet immer noch eine alljährliche Ausnahme bleiben („Roma“, „The Irishman“), trotzdem muss man den so entstandenen Kunstwerken dann auch den nötigen Respekt zollen. Fernando Frias‘ „I’m No Longer Here“ ist ein Spielfilm, wie er überspezifisch in seinem Milieu wohl kaum sein könnte, entführt er den Zuschauer doch in die Cumbia-Szene (eine kolumbianische Musik und Subkultur) der mexikanischen Millionenstadt Monterrey. Auch der sehr wortkargen Hauptfigur gegenüber bleibt der Film merkwürdig distant; gerade dadurch erzeugt Frias aber ein ungeahntes Gefühl von Echtheit, an der man sich kaum sattsehen kann.
006. „Fire Will Come“ (Oliver Laxe, 2019)
In der Schlusseinstellung fliegt ein Helikopter über der Sonne. Verdeckt die Sonne immer wieder, dann bricht die Sonne sich wieder Bahn, dann wird sie wieder verdeckt, dann kommt sie wieder zum Vorschein; so hell, dass der Helikopter darin verschwindet. Man kann diese letzte Einstellung als eine in der Natur verhaftete Neigung lesen, die von der Zivilisation immer wieder auskorrigiert werden muss. Die Hauptfigur in „Fire Will Come“ ist ein sozialer Außenseiter, der in seinem Dorf der Pyromanie bezichtigt wird. Ob er wirklich den Wald angesteckt hat, der am Ende des Films wieder lichterloh brennen wird, oder nicht, überlässt Oliver Laxe der Urteilsgewalt des Zuschauers. Jedenfalls ist der brennende Wald (der einerseits durch die Naturgewalt der Sonne als auch von Menschenhand entflammbar ist) eine sehr poetische Metapher für alle möglichen Formen schuldiger oder unschuldiger sozialer Außenseiterschaft (dessen naheliegendster für mich Triebtäterschaft ist)
005. „Dear Comrades!“ (Andrei Konchalovsky, 2020)
Ein Streik innerhalb eines sozialistischen Systems? Die noch junge post-stalinistische Sowjetunion unter Nikita Khrushchev steht gleich zum Anfang unter dem Druck eines unauflösbaren Widerspruchs. Was das Drehbuch von Andrei Konchalovsky und Elena Kiseleva daraus abwickelt, ist nichts Geringeres als eine der differenziertesten Auseinandersetzung mit Realsozialismus, die es wohl jemals auf eine Kinoleinwand gebracht haben. Dabei geht es ironischerweise ganz zentral um den Verlust der Differenz in der Auseinandersetzung. Die Hauptfigur, die junge Mutter Lyudmila, ist eine verhärtete Altstalinistin, die Tochter hingegen als Teil der 60er-Generation Kind der entstalinistischen Enthüllung Khrushchevs. Das wäre ohnehin schon ein seltener Topos im Historienfilm über den Realsozialismus, den wir (gerade aus westlichen Produktionen) zumeist als Jahrzehnte immer-gleichbleibenden Einheitsbrei des Autoritarismus erleben dürfen. Aber mit dieser Gegenüberstellung fängt Konchalovsky gerade erst an. Aus dem Widerspruch eines theoretisch der Menschenwürde zugeneigten Sozialismus, der um sich selbst zu verteidigen, zu den Waffen greifen muss, entfesselt Konchalovsky eine bis in die Statistinnenrollen atemberaubend inszenierte Mutter-Tochter-Tragödie als Suche nach der Wahrheit, dem eigenen Selbst und dem Wiedererlangen einer politischen Mitte.
004. „To The Ends Of The Earth“ (Kiyoshi Kurosawa, 2019)
Anlässlich des Jubiläums japanisch-usbekischer Beziehung entstand dieser Film. Jetzt könnte man hier einen Werbefilm für den Urlaubsort Usbeskistan erwarten und ja, irgendwie ist er das natürlich auch. Aber zum Glück hat man für dieses Projekt nicht etwa einen Koji Fukada eingeflogen, sondern Kiyoshi Kurosawa, seines Zeichens Experte für Thriller und Horrorfilme. So ist „To The Ends Of The Earth“ eine skurrile Filmerfahrung. Jede Minute, die wir die japanische Filmcrew verfolgen, wie sie eine Reportage über Usbekistan drehen will, nimmt der Film ernst, bleibt taktil, in den kleinen Momenten des Essens, Fischens, im-Hotel-Zimmer telefonierens … und dann … und dann gibt es immer wieder Momente, in denen der Film völlig organisch in eine Paranoia vor dem Fremden und Ungewohnten verfällt (in einem Werbefilm für Usbekistan wohlgemerkt!), nur um doch wieder alles anders und halb so spektakulär aufzulösen, wie es einem die Zuschauerfantasie mit einem durchgehen lässt. Kurosawa kommentiert hier ein bisschen auch sein eigenes Schaffen, vor allem macht er auf eine sehr ungewöhnliche Weise sehr sehr viel Spaß.
003. „Dwelling In The Fuchun Mountains“ (Xiaogang Gu, 2019)
Zweieinhalb Stunden verfolgen wir verschiedenen Schicksalen einer chinesischen Großfamilie. Ganz im Stile des modernen chinesischen Kinos, insbesondere des gleichaltigen Gan Bi, besteht der gesamte Film dabei aus gemäldehaften, teilweise bis zu zehnminütigen (!) Einstellungen und gigantomanen Kamerafahrten. Wenn schon einen Film nach einer chinesischen Landschaftsmalerei benennen, dann wohl auch einen Film machen, der dieselbe Schönheit, technische Brillanz und Allumfänglichkeit als regionales Porträt bietet, dachte sich wohl der 32-jährige Regisseur Xiaogang Gu, von dem wir noch einiges hören und sehen werden. Allein deswegen schon, weil dieses Werk hier sein Debütfilm und der erste Teil (!) einer Trilogie ist.
002. „Never Rarely Sometimes Always “ (Eliza Hittman, 2020)
Dieser Film zeigt weibliche Körperodyssee. Nein, präziser, er macht sie für solche nachfühlbar, die nicht selbst weiblich sind. Damit erreicht er tatsächlich etwas, das vieleviele Filme feministischer Opferperspektivik nicht oder kaum erreichen, obwohl sie auf den ersten Blick erzählerisch dasselbe anbieten. Das sagt einerseits etwas über Film als Medium genuin-menschlicher Empathie aus (an dessen humanistisches Potenzial ich bedingungslos glaube), andererseits auch über eine handwerkliche Qualität, die Eliza Hittman und ihr Kino erreichen, ab der etwas Gut-Gemeintes auch tatsächlich über seinen rhetorischen Inhaltswert hinaus, eine Identifikation ermöglicht. Statt Filme für ihre reine inhaltliche Absicht mit verfrühtem Applaus (Preisen und Förderungen) zu verabschieden (und ein Anliegen damit zu verkitschen und letztlich zu entwerten), sollte man sich ganz genau ansehen, was an diesem Film so viel besser gemacht worden ist als bei vielen anderen.
001. „DAU. Degeneration “ (Ilya Khrzhanovsky & Ilya Permyakov, 2020)
2020 war kein Jahr, in dem große neue Perspektiven des Weltkinos aufgetaucht sind. Die einzige Ausnahme darin besteht in Ilya Khrzhanovskys Skandalkunstinstallation „DAU.“, aus dessen Filmmaterial insgesamt 13 (!) verschiedene Spielfilme geschnitten worden sind. „DAU. Degeneration“ ist mit sechs Stunden und dramatisch-wohlstrukturierte „Links“ auf andere „DAU.“-Filme das erkennbare Kernstück dieses Kunst-Monstrums. Ironischerweise weitet „DAU.“ ästhetische Perspektiven, in dem es gleichzeitig in eine Vergangenheit verweist. Den Bogen moralisch so zu überspannen scheint (oder jedenfalls das zeitgeistige Diskurspotenzial hierfür so zum Glühen bringt, dass es einer Überspannung in der öffentlichen Wahrnehmung wohl gleichkommt), dass die so eben geöffnete Tür der ästhetischen Möglichkeit, sogleich auch wieder zugeworfen wird. „DAU.“ bringt echte ehemalige KGB-Agenten, ebenso wie echte (mittlerweile verurteilte) Neo-Nazis ans Set und lässt diese filterlos auftreten. Das werden wir wohl nie wieder im Kino sehen, allein deswegen weil sich hierfür so schnell keine Förderungen mehr finden lassen können. Es ist jedenfalls eine Filmerfahrung, die in ihrer metamedialen Mehrbödigkeit und präzisen Provokation eine jetzt schon filmhistorische Erfahrung setzt. Man kann (ebenso vom Realsozialismus) von diesem Werk ethisch halten, was man will (und dem Projekt geht es kongenialerweise genau darum), wenn wir es mit einem ignoranten Schweigen von seiner filmgeschichtlichen Bedeutung abweisen, werden spätere Generationen dieses aus der Zeit gefallene Ungetüm ausgraben, wie Riefenstahl oder Kalatozov.
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