Zum insgesamt achten Mal verleihe ich auch dieses Jahr wieder auf meinem Blog parallel zu den Oscars meine Goldenen Tellerränder, die in 21 Kategorien Filmkunstwerke für ihre jeweiligen Leistungen auszeichnen und dabei im Gegensatz zu anderen Filmpreisen einen besonderen Fokus auf narrativ-funktionalen Einsatz und Innovation legen.
Zugelassen waren alle Filme, die ich letztes Jahr gesehen habe und als Release gelten, also (unabhängig von nationalen und internationalen Kino- und VoD-Starts) zwischen 2020 und 2022 erschienen sind.
Best Make Up And Hairstyling • „Pleasure“ (Ninja Thyberg, 2021) • „Everything Everywhere All At Once“ (Daniel Scheinert & Daniel Kwan, 2022) • „Bones And All“ (Luca Guadagnino, 2022) • „Im Westen nichts Neues“ (Edward Berger, 2022) • „Crimes Of The Future“ (David Cronenberg, 2022)
And the winner is ...
„Crimes Of The Future“ (David Cronenberg, 2022)
Vor kurzem wurde bekannt, dass ein fiktiver David-Cronenberg-Film, samt Filmstills von einer K.I. erstellt wurde. Die Ergebnisse sind in der Tat frappierend, was natürlich die Frage aufwirft: Wenn eine K.I. solche Welten entwerfen kann, wie groß kann also die Leistung von Cronenberg selbst sein, einen weiteren Cronenberg in die Welt zu bringen? Nunja, groß! Ohne an dieser Stelle zu medienphilsophisch ausufern zu wollen, kann eine K.I. ja nur aus dem Pool dessen fischen, was gelabelt als „Cronenberg“ da ist und aus dessen Mittelwerte etwas „Neues“ erschaffen, Cronenberg selbst hingegen kann diese Matrix erweitern. Das tut er mit „Crimes Of The Future“ ein erkennbar cronenbergscher, altmodisch-bodyhorroesker Scifi-Film, der sich maßgeblich durch die ekelhaft-physische Maskenbilder als einen originalen Cronenberg zu erkennen gibt.
In Sachen funktionaler Verknüpfung von der geschaffenen Kostümwelten mit der Handlung steht der exzentrische „House Of Gucci“ von Ridley Scott weit über so ziemlich jedem anderen Film des Jahres. Die virtuosen Kostüme spiegeln das stetige Changieren des Films, seiner Bühnen- und Kamerabilder, Schnitte und Schauspielperformances zwischen Eleganz und skuriller Trashigkeit, mit der Scott einen ganz eigenwilligen Kommentar auf das (gefallene) Gucci-Imperium gedreht hat.
Best Production Design • „The Eternal Daughter“ (Joanna Hogg, 2022) • „West Side Story“ (Steven Spielberg, 2021) • „Pacifiction“ (Albert Serra, 2022) • „Blonde“ (Andrew Dominik, 2022) • „Reflection“ (Valentyn Vasyanovych, 2022)
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„Reflection“ (Valentyn Vasyanovych, 2022)
In diesem Jahr haben sich wenige Filme mit ausgefallenen Bühnenbauten und geschaffenen Welten hervorgetan, weswegen die brillanteste Leistung dieses Jahr mehr im Bereich des Locationscoutings zu finden ist. „Reflection“ von Valentyn Vasyanovych schafft es, in düsteren Kellerverliesen die Erfahrung des Kriegstraumas mit beiläufiger Plastizität zu zeitigen und sie dann im zweiten Teil des Films gegen ganz andere Szenenorte, Orte eines trügerischen Friedens „antreten“ zu lassen. Ein Jahr von Kriegsbeginn erschienen, ist die Situation in der Ukraine heute bestenfalls auf der Ebene der Intensität eine andere als zuvor. Denn auch „Reflection“ zeigt schon, wie unterschiedlich das Leben in Ost- und Westukraine ist und wie fragil doch die Rückkehr in das „normale“ Leben ist. Für diese narrative Strukturidee ist das geniale Zusammenspiel aus Kamera und Szenenbild maßgeblich verantwortlich.
Best Score/OST • „Rimini“ (Ulrich Seidl, 2022) • „The Eight Mountains“ (Felix Van Groeningen & Charlotte Vandermeersch, 2022) • „Atlantide“ (Yuri Ancarani, 2021) • „Im Westen nichts Neues“ (Edward Berger, 2022) • „TÁR“ (Todd Field, 2022)
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„TÁR“ (Todd Field, 2022)
Zur Eleganz des Films „TÁR“ gehört elementar die detailgetreue Konstruktion einer alternativen Wirklichkeit der Hochkultur. Lydia Tár existiert nicht, man könnte aber meinen, sie existierte. So verhält es sich auch mit der gesamten sozialen und Arbeitswelt der Star-Dirigentin; zwei Sphären, die ohnehin miteinander verschränkt sind. Großartig, wie sowohl in der diegetischen Musik — der live-eingespielten Orchestermusik und den von Cate Blanchett selbst performten Pianoeinheiten — wie auch in der kongenial damit verschmelzenden non-diegetischen Musik der Cellistin Hildur Guðnadóttir das Innerliche der Figur Lydia Tár in diesem hochkulturellen Characterpiece zum Ausdruck gelangt.
Best Sound Mixing • „Brother In Every Inch“ (Alexandr Zolotukhin, 2022) • „Zola“ (Janicza Bravo, 2020) • „C’mon, C’mon“ (Mike Mills, 2021) • „Im Westen nichts Neues“ (Edward Berger, 2022) • „TÁR“ (Todd Field, 2022)
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„C’mon, C’mon“ (Mike Mills, 2021)
Selten hat sich ein Film diegetisch so sehr für Ton interessiert wie Mike Mills‘ Film „C’mon, C’mon“. Es geht um das Hinhören und Zuhören und das u.A. in einem rein technischen Sinne. Die beiden Hauptfiguren Johnny und sein Neffe Jesse sind mit einem Aufnahmegerät unterwegs und interviewen Kinder im ganzen Land, hören dabei den Klang des Mikrofons auf dem Kopfhörer mit. Dieser Modus, die Unterschiede von Stimmen wie auch lokalen Klangatmosphären, untersucht „C’mon, C’mon“ und setzt die Tonmischung dabei in besonderen Maße als künstlerisches Ausdrucksmittel ein.
Best Sound Editing •„Zola“ (Janicza Bravo, 2020) • „The Natural History Of Destruction“ (Sergei Loznitsa, 2022) • „Mad God“ (Phil Tippett, 2021) • „TÁR“ (Todd Field, 2022) • „Unrueh“ (Cyril Schäublin, 2022)
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„Zola“ (Janicza Bravo, 2020)
„Zola“ ist in jederlei Hinsicht eine postmoderne Erzählung. Als ultra-unzuverlässiges Erzählen, als Adaption eines Tweetthreads mit unklarem Realitätsbezug bedarf es einer ganz speziellen filmgrammatikalischen Formgebung. Das gelingt Janicza Bravo in besonderer Weise durch Editing und Sound-Editing. Märchenhafte Feenklänge, HipHop-Beats und WhatsApp-Notification-Sounds, teilweise ineinander übergeblendet, dann wieder im flashigen Stakkato; „Zola“ ist ein Ideenfeuerwerk, dass der Literazität des Kurznachrichtendienst Rechnung trägt.
Best Special / Visual Effects • „Ninjababy“ (Yngvild Sve Flikke, 2021) • „Mad God“ (Phil Tippett, 2021) • „Nope“ (Jordan Peele, 2022) • „Im Westen nichts Neues“ (Edward Berger, 2022) • „Top Gun: Maverick“ (Joseph Kosinksi, 2022)
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„Mad God“ (Phil Tippett, 2021)
Während digitale VFX oft ein erkennbares Haltbarkeitsdatum vor sich hertragen, garantiert die Physikalität von analogen Spezialeffekten eine gewisse Zeitlosigkeit, die entweder über Jahrzehnte hinweg für sich stehend beeindrucken kann oder wenn nicht zumindest so etwas wie einen zeitkoloritesken Charme entwickeln kann. SFX-Legende Phil Tippet hat u.A. für Steven Spielberg und Paul Verhoeven Effekte für das kollektive Kulturbewusste geschaffen und legt mit dem crowd-funding-finanziertem „Mad God“ sein Regiedebüt vor, dass natürlich in aller erster Linie ein Themenpark großartiger Handwerkskunst der Spezialeffekte und des Stop Motions darstellt. In gewisser Weise ist der Tellerrand für „Mad God“ auch eine Auszeichnung fürs Lebenswerk, in jedem Fall ist sie hochverdient.
„Three Minutes: A Lengthening“ (Bianca Stigter, 2021)
„Three Minutes: A Lengthening“ ist ein medienwissenschaftlicher Werkstattfilm. Ein dreiminütiges Archivmaterial jüdischen Lebens in Polen wird immer und immer wieder wiederholt, kommentiert und kontextualisiert. Es ist eine große Kunst, aus diesen drei Minuten eine ganze Stunde zu „dehnen“ (lenghten), die fesselt und rasende Gedanken provoziert, über ausgelöschtes Leben, aber auch über das Medium Film selbst. Dieser Film besteht fundamental aus dem Potenzial der Editingkunst.
Best Documentary Feature • „Mutzenbacher“ (Ruth Beckermann, 2022) • „Three Minutes: A Lengthening“ (Bianca Stigter, 2021) • „All The Beauty And The Bloodshed“ (Laura Poitras, 2022) • „How To Save A Dead Friend“ (Marusya Syroechkovskaya, 2022) • „Oecomomia“ (Carmen Losmann, 2020)
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„How To Save A Dead Friend“ (Marusya Syroechkovskaya, 2022)
Ein sehr persönlicher Filmausdruck, ein Essay über eine Lieb- und Freundschaft, ein Vermächtnis eines verlorenen Menschen. „How To Save A Dead Friend“ schafft es, die Liebe der Filmemacherin zu einer Person auszudrücken, dabei nie eitel zu werden und eine geradezu transzendentale Erfahrung des Filmisch-Persönlichen zu sein. Auch in seiner Form radikal ein Kind der 00er-Jahre und des enthemmten Internets der Millenial-Generation, vermittelt Syroechkovskaya auch erfolgreich das Gefühl der Orientierungslosigkeit einer Russischen Föderation, die immer mehr Richtung Diktatur taumelt.
Best English Language Feature • „Zola“ (Janicza Bravo, 2020) • „Pleasure“ (Ninja Thyberg, 2021) • „C’mon, C’mon“ (Mike Mills, 2021) • „The Banshees Of Inisherin“ (Martin McDonagh, 2022) • „She Said“ (Maria Schrader, 2022)
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„Zola“ (Janicza Bravo, 2020)
A24 ist die Filmproduktionsfirma der Stunde, die mittlerweile einen wirklich beachtlichen Katalog an Volltreffern aufweist. Oft haben deren Filme aber immer noch ein kleines Restbisschen von etwas Bravem und Verschultem, das in letzter Konsequenz einen guten Film von einem Meisterwerk unterscheidet. „Zola“ von Janicza Bravo hingegen ist tatsächlich in seiner Form wirklich radikal. Ein Meisterwerk.
Best Debut Feature • „Pleasure“ (Ninja Thyberg, 2021) • „Playground“ (Laura Wandel, 2021) • „Aftersun“ (Charlotte Wells, 2022) • „Sonne“ (Kurdwin Ayub, 2022) • „How to Save a Dead Friend“ (Marusya Syroechkovskaya, 2022)
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„How to Save a Dead Friend“ (Marusya Syroechkovskaya, 2022)
Als eine sehr unmittelbare autobiografische Geschichte birgt dieser Film natürlich für Frau Syroechskovskaya das Risiko, so eine Art One-Hit-Wonder zu bleiben, denn mit „How To Save A Dead Friend“ hat sie in gewisser Weise ihr gesamtes, bisheriges Leben in eine einzige künstlerische Reflexion gegossen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses autosoziobiografische Filmessay dennoch nur der Anfang ist. Gespannt werde ich die Karriere dieser Regisseurin weiterverfolgen.
In einem starken Jahrgang geht der Goldene Tellerrand an ein Drehbuch, das eine besonders fruchtbare Symbiose zwischen literarischer Vorlage und filmischem Dispositiv herstellt: Die Vorlage von Florence Aubenas ist noch eher ein (autobiografischer) Tatsachenbericht, der Schriftstellerin wie sie undercover im Putzmilieu recherchierte. Das Drehbuch thematisiert diese Perspektive nun mit, indem sie die recherchierende Journalistin zur Hauptfigur macht und dem „echte“ ArbeiterInnen entgegenstellt, die in gewisser Weise Leerstellen des Drehbuchs mit Echtheit auffüllen. Zudem brilliert das Drehbuch mit klugen motivischen Clustern: Die Ärmelkanalfähre etwa wird zu einem unheilvollen Ort, wo die Perspektivlosen Nordfrankreichs allesamt eines Tages enden werden.
Best Original Screenplay • „Saint Omer“ (Alice Diop, 2022) • „Trenque Lauquen“ (Laura Citarella, 2022) • „The Banshees Of Inisherin“ (Martin McDonagh, 2022) • „Riot Police“ (Rodrigo Sorogoyen, 2020) • „Holy Spider“ (Ali Abbasi, 2022)
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„Trenque Lauquen“ (Laura Citarella, 2022)
Drehbücher können durch eine elegante Geschliffenheit und durch feine Variationen gängiger dramaturgischer Konventionen brillieren (siehe: Vorjahresgewinnerin). „Trenque Lauquen“ ist ganz anders. Es ist eine prosidramatische Skulptur, achwas, monumentale Statue. Sicher ein Film, der eher in Filmwissenschaftsseminaren und Kunstfestivals als im Mainstream sein Habitat findet, aber ein reiches erzählerisches Wagnis ist, wie so typisch für die Filmkünstler von El Pampero Cine. Zwei Männer machen sich aus unterschiedlichen Motiven auf der Suche nach einer geliebten Frau. Der Film untersucht die Motive der Männer wie ein Detektivspiel, dann wieder wie ein Thriller. Dann wieder sind wir bei der Frau, die selbst noch auf den Spuren einer anderen Frau ist und schließlich wohl auf der Suche nach sich selbst ist. Wie ein ewiges narratives Zwiebelschälen setzen sich Schichten für Schichten frei und vexieren doch einander.
Best Cinematography • „Playground“ (Laura Wandel, 2021) • „The Eight Mountains“ (Felix Van Groeningen & Charlotte Vandermeersch, 2022) • „Atlantide“ (Yuri Ancarani, 2021) • „Pacifiction“ (Albert Serra, 2022) • „Eyimofe (This Is My Desire)“ (Chuko & Arie Esirie, 2020)
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„Pacifiction“ (Albert Serra, 2022)
Es gibt wohl zwei Geheimzutaten zu der sphärischen Schönheit von „Pacifiction“. Einerseits natürlich das spezielle natural light einer Pazifikinsel und andererseits die Strategie, den Film mit einer Vielzahl von Black-Magic-Pocket-Kameras so zu drehen, dass im Grunde genommen permanent die Kamera läuft und die aufgenommen Schauspieler nie wirklich darüber Bescheid wissen, ob und in welcher Auflösungsgröße sie gerade ins Bild gesetzt werden. Dieser Möglichkeitsraum, den „Pacifiction“ auch erzählerisch und motivisch erzeugt, gibt er durch die Formwahl seiner Kamera bereits vor. Jedes Bild überrascht, weil sich „Pacifiction“ ständig neu zu erfinden scheint. Große Bildpoesie in rosa-lila-rotem Dämmerungslicht des Weltuntergangs.
In diesem Jahr sind einige Filme nominiert, deren Casting-Auswahlen nicht nur künstlerisch gelungen, sondern auch genuin politisch sind. Erwähnt sei hier auch ausdrücklich „She Said“ und „Pleasure“, wo Betroffene von sexualisierter/pornografischer Gewalt sich selbst oder Variationen ihrer selbst spielen. Ein knapper Sieg muss dennoch an „Between Two Worlds“ gehen für das Aufeinandertreffen der Kulturikone Juliette Binoche, die eine Vertreterin des Kulturbürgertums, eine Schriftstellerin spielt, mit Personen aus dem Putzmilieu, die ebenjene Arbeiterinnen aus dem Putzmilieu spielen — und dabei nebenbei absolut fantastisch sind! Besser kann man dem behandelten Thema des Klassenclashs nicht durch Casting Rechnung tragen.
Best Supporting Actress • Jessie Buckley („The Lost Daughter“) • Hélène Lambert („Between Two Worlds“) • Pahoa Mahagafanau („Pacifiction“) • Guslagie Malanga („Saint Omer“) • Annabelle Lengronne („Mother And Son“)
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Best Supporting Actor • Daniel De Palma („Vera“) • Jacek Braciak („Leave No Traces“) • Günter Duret („Playground“) • Steve Papagiannis („Between Two Worlds“) • Luis Zahera („The Beasts“)
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Luis Zahera („The Beasts“)
Menschliche Bestien und trotzdem sind es immer komplexe Psychologien in den rauen, vor Atmosphäre berstenden Filmen Rodrigo Sorogoyens. Einen Nachbarn wie Luis Zaheras Figur in „The Beasts“ wünscht man wohl niemandem. Er ist eine undurchschaubare, in seiner menschlichen Verletzlichkeit und soziologischen Verortbarkeit aber immer gleichzeitig auch irgendwie verstehbare Brutalität. Zahera ist ein Erlebnis und einer der brillantesten „Bösewichter“, die man lange so im Kino zu Gesicht bekommen hat.
Best Actress • Yukino Kishii („Small, Slow But Steady“) • Juliette Binoche („Between Two Worlds“) • Maya Vanderbeque („Playground“) • Vera Gemma („Vera“) • Tilda Swinton („The Eternal Daughter“)
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Yukino Kishii („Small, Slow But Steady“)
Zum achten Mal werden die Goldenen Tellerränder schon verliehen und endlich ist es soweit! Mit Yukino Kishii gewinnt das erste Mal eine Schauspielerin den Goldenen Tellerrand in einer Darstellerkategorie zum zweiten Mal! Yukino Kishiis Darstellung als taubstumme Boxerin wäre dabei sogar in der Ideologie der Oscars absolut auszeichnungswürdig, in der es um messbare Schauspieltechnik (check!), biografisch-historische Persönlichkeitsdarstellungen (check!), marginalisierte Identitäten (check!) und körperliches Investment beim Filmdreh (check!) geht. Aber das ist nicht einmal das wirklich Grandiose an dieser Performance, die in diesem Jahr wirklich weit über allem anderen stellt: Kishiis Figur ist — womöglich auch durch Wegnahme der Sprache und der bescheiden-undramatischen Wünsche der Figur — so etwas wie pures menschliches (Da)Sein. Der Film ermöglicht damit ein reines, kontemplatives Zusehen (mit allem, was dazu gehört).
Best Actor • Michael Thomas („Rimini“) • Tomokazu Miura („Small, Slow But Steady“) • Eden Dambrine („Close“) • Joaquin Phoenix („C’mon, C’mon“) • Denis Ménochet („The Beasts“)
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Michael Thomas („Rimini“)
Richy Bravo ist vielleicht Michael Thomas‘ Rolle des Lebens. Der schmierige, abgehalfterte Schlagerstar, der im Urlaubsort Rimini für einsame Seniorinnen Charmeur und Liebesabenteuer darstellt. Irgendwas zwischen männlicher Prostitution und Lebemann und natürlich im Inneren tottraurig und mindestens genauso einsam wie die Seniorinnen, denen er Halt gibt. Im Endeffekt ist Seidls häufig problematisierte Perspektive auf solche Schicksale die womöglich einzige Repräsentanz, die einem gestrigen, toxoiden weißen Mann wie die Richys dieser Welt noch bleibt und die uneitle Selbstzurschaustellung Michael Thomas‘ dabei das entgegengesetzte Puzzlestück zu einem filmischen Humanismus, der im biederen Haltungsdrama auch in Österreich immer seltener wird. In einer zentralen Szene kniet Richy Bravo vor seiner Tochter nieder und bettelt darum, dass sie ihm seine Liebe glaubt. Seine Stimme bleibt aber die rauchige Stimme des Altersheimcharmeurs, Richy Bravo kommt aus seiner Rolle nicht heraus, bleibt in dieser Situation merkwürdig inauthentisch. Gerade diese Inauthentizität ist aber keineswegs unrealistisch, keineswegs schlechtes Schauspiel, sondern das genaue Gegenteil. Denn Richy Bravo hat authentische Gefühlsäußerung längst verlernt und unter seiner Schlagergesangsfassade vernagelt. Er ist in dieser Situation unfähig, die Gefühle zu vermitteln, die er empfindet, bleibt zurückgeworfen auf eine hilflose Geste des Kniefalls. Insbesondere in dieser sensationellen Szene habe ich Menschen wie Richy Bravo verstanden und als Menschen empfunden.
Best Director • Shô Miyake („Small, Slow But Steady“) • Rodrigo Sorogoyen („Riot Police“ und „The Beasts“) • Albert Serra („Pacifiction“) • Laura Citarella („Trenque Lauquen“) • Jonás Trueba („Who’s Stopping Us“)
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Rodrigo Sorogoyen („Riot Police“ und „The Beasts“)
Wenige Regisseure haben ein solch für sich stehendes handwerkliches Talent für Schauspielführung wie der hochproduktive Rodrigo Sorogoyen. Mit „Riot Police“ hat er mal eben eine Drama Series geschaffen, die sich durchweg inszenatorisch auf dem Level eines Festivalfilms bewegt (und damit meilenweit über dem Durchschnitt der zumeist sehr bieder inszenierten Drama Series) und mit „The Beasts“ einen Film, der gleichzeitig eine Weiterentwicklung seines Stils offenbar werden lässt. Lange Einstellungen mit weitwinkligen Objektiven, in denen sich die Schauspieler naturalistisch und doch immer eindrucksvoll prägnant präsentieren können, sind in „The Beasts“ weiterhin Erkennungsmerkmal seines Autorenstils aber dabei nicht ganz so ausufernd-selbstzweckhaft als etwa noch in „Madre“. Also, zusammengefasst: Neue Qualitätsstandards im Serienformat gesetzt und nebenbei den reifsten Spielfilm eines ohnehin schon prall gefüllten Œuvres. Dafür gebührt ihm der hiesige Regie-Tellerrand!
Best Picture • „Small, Slow But Steady“ (Shô Miyake, 2022) • „Between Two Worlds“ (Emmanuel Carrère, 2021) • „Zola“ (Janicza Bravo, 2020) • „Riot Police“ (Rodrigo Sorogoyen, 2020) • „Pacifiction“ (Albert Serra, 2022) • „Saint Omer“ (Alice Diop, 2022) • „Trenque Lauquen“ (Laura Citarella, 2022) • „Holy Spider“ (Ali Abbasi, 2022) • „The Beasts“ (Rodrigo Sorogoyen, 2022) • „How To Save A Dead Friend“ (Marusya Syroechkovskaya, 2022)
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„Small, Slow But Steady“ (Shô Miyake, 2022)
Ein bisschen ist Shô Miyakes Meisterwerk ein Etikettenschwindel, wenn man denn Erwartungen an diesen Film mitbringt, welche auch immer es sein werden. Ein Boxfilm? Ja, es wird darin geboxt, aber ein „Boxfilm“ ist das sicher nicht. Ein Film über eine behinderte Antiheldin, die sich in schwierigem Umfeld emporkämpft? Nein, Keiko ist mittelmäßig talentiert und hat keine wirklichen Gegnerinnen, die ihr wirklich Böses wollen. Was also ist dieser Film hier? Nunja, der Titel war eigentlich dann doch sehr transparent. Ehe man sich mit seinen Erwartungen versehen hat, diesen schönen Figuren eine Weile zu gesehen hat und gemerkt hat, dass Shô Miyakes Film in der Tat langsam, klein und irgendwie stetig voranschreitet, da hat man doch — so ganz nebenbei — etwas über diese beiden Figuren begriffen, ihr Verhältnis zueinander und wie tief das in das Menschsein hinabgreift. Was für eine Katharsis! Und überhaupt. Was für ein weiser Film! Was für ein purer, reiner, analog-manueller, echter, würdevoller, philo-poetischer Film! Ein Film des erwartungsbereinigten Zusehens und des absoluten einfachen menschlichen Seins. Man könnte viele solche Filme drehen. Immer und immer wieder aufs Neues solche Geschichten erzählen! Einzig, man müsste es hinbekommen.
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