Vom Irrwitzigen des weißen Mannes.
Originaltitel: Los Colonos
Alternativtitel: The Settlers
Produktionsland: Argentinien, Chile, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Schweden, Taiwan, Vereinigtes Königreich
Veröffentlichungsjahr: 2023
Regie: Felipe Gálvez Haberle
Drehbuch: Felipe Gálvez Haberle, Antonia Girardi
Bildgestaltung:
Produktion: Stefano Centini, Benjamín Doménech, Santiago Gallelli, Thierry Lenouvel, Emily Morgan, Giancarlo Nasi, Matias Roveda
Darsteller: Benjamin Westfall, Mark Stanley, Camilo Arancibia, Sam Spruell, Alfredo Castro, Marcelo Alonso, Luis Machín, Mariano Llinás, Emily Orueta, Agustín Rittano
Laufzeit: 100 Minuten
Chile im Jahr 1901. Weil Patagonien am südlichsten Zipfel Südamerikas nur darauf wartet, erschlossen zu werden, plant der Großgrundbesitzer José Menéndez den Bau einer neuen Straße, einen sicheren Transportweg für die gigantischen Herden zum Atlantik. Er heuert daher den jungen Halb-Chilenen Segundo, den US-amerikanischen Söldner Bill und den schottischen Lieutenant Alexander McLennan als Anführer des Trios an, die die Grenzen seines weitläufigen Besitzes abstecken sollen, zur Not mit Gewalt. Segundo hat sich bereits beim Sichern der Grenze zum benachbarten Argentinien als hervorragender Scharfschütze erwiesen, und Bill und MacLenan haben im Krieg Erfahrungen gesammelt. Alle drei gehen bisweilen unmenschlich hart, brutal und rücksichtslos vor. Bis auf Segundo, der durch seine Identität als Mestizo im dauernden Konflikt zwischen den Weißen und den Indigenen steht und passiv zu den Verbrechen beiträgt
Quelle: de.wikipedia.org
Replik:
Eigentlich müsste es vielmehr Filme wie „Colonos“ aus unterschiedlichen Ländern geben, denn dass jedes Land mit einer jüngeren Kolonialgeschichte auf eigenem Territorium historische Geschichten liefert, die man als Western erzählen könnte oder müsste, sollte als Erkenntnis eigentlich nicht überraschen. Feuerland also, der Süden Argentiniens und Chiles, wo es außer ewiges Weit und Schafherden nicht viel gibt, ist Spielort von „Colonos“, dem Debütfilm Felipe Gálvez Haberles, den er nach eigener Aussage dort fast nicht drehen konnte, da die meisten Ländereien dort immer noch im Besitz der Familie Menéndez gehört. Nachfahren jenen Siedlers, den „Colonos“ hier ein Denkmal der Kritik verpasst, jenes Siedlers also, der noch Anfang des 20. Jahrhunderts, um einen „sicheren Pass“ zum Pazifik zu erschließen, blutrünstige Kopfgeldjäger engagierte, um das Land von Einheimischen zu befreien, die vermeintlich den Schafbestand Menéndez bedrohten. Das Volk der Selk’nam fiel diesem Jagdgenozid fast vollständig zum Opfer. So viel zum Hintergrund dieses Film, der zu den beeindruckendsten Arbeiten des Jahres gehört. Auf dem Filmfestival in Cannes 2023 wurde ihm der FIPRESI-Award der Certain-Regard-Sektion zugesprochen.
Koloniale Arbeit
„Colonos“ verfolgt drei dieser Kopfgeldjäger auf ihrer „Arbeit“: ein Schotte, ein Amerikaner und ein Mestizo, also ein mixed race Indigener. Der Blick des Mestizos Segundo hat eine besondere Spannung, da sich in dessen Augen das angerichtete Leid anders darstellt, schließlich ermordet er Menschen im Namen einer Ideologie, derer er selbst jederzeit zum Opfer fallen könnte. Zwischen dem Schotten und dem Amerikaner finden permanente Deutungshoheitskämpfe statt, männliche Hornstoßereien, und dennoch ist immer klar, dass ihr Weißsein sie im Zweifel gegenüber dem indigenen Segundo verbindet. Haberle gelingt das große Kunststück, dass er weder einem identitätspolitischen Kitsch verfällt, den Indigenen Segundo als Opfer oder Held zu überhöhen, noch dass er den Western-Gaze romantisiert und zu Ungunsten seines entschieden antikolonialistisches Projekt verflachen würde. Das Kopfgeldjägertum wird als eine Arbeit dargestellt, zu dem alle Beteiligten qua ihrer Biografie eben gestoßen sind. Auch wenn der Film in fantastische Kamerabilder getunkt ist, vermittelt sich „Colonos“ in einem erzählerischen Realismus, der ersteinmal präzise nachzeigen und erst im zweiten Anlauf dann verstehen will. In einer Kernszene zeigt Haberle die drastische Auslöschung und Vergewaltigung eines Dorfes; andere Akte des Völkermordes hingegen spart er aus, verbirgt sie hinter einer späteren Nacherzählung aus dem Mund Segundos. Damit verknappt er das Morden elegant auf ein Exempel, das auf das Gesamtbild verweist, ohne der Faszination des Todes zu sehr selbst ausgesetzt zu sein.
First: Cow, Second: Sheep
Dabei hat Haberle immer ein Auge für das Aberwitzige, für den Wahnsinn im Kolonialismus, wie er nicht zuletzt an Joseph Conrad erinnert.1 An der argentinisch-chilenischen Grenze, die irgendwo im Nirgendwo verläuft, kommt es zwischen den Kopfgeldjägern und Grenzsoldaten zu machoiden Sportwettkämpfen, die koloniale Logik wird also auf ein Sein des weißen, patriarchalen Mannes rückgebunden, ohne es aber zu essenzialisieren. Man kann „Colonos“ definitiv als ein Film über Männlichkeit lesen, aber diese Männlichkeit ist immer in seiner spezifischen Geschichtlichkeit verortet. Wie eine „negative Antithese“ zu Kelly Reichardts „First Cow“, wo der protokapitalistische weiße Mann gegenüber dem Indigenen auch etwas Niedliches und Zartes hat, spielt Haberle das weiße Hahnenkämpfertum hier in seiner reinen historischen Toxizität aus und findet doch einen ähnlichen Ton des Irrwirtzigen wie Reichardt, der gleichzeitig literarisch ins Komische überhöht als auch historisch präzise genug bleibt, um seine Kritik nicht zu verwässern.
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- In einer Kernszene treffen wir mit dem Colonel Martin auch einen direkten Verweis auf Joseph Conrads Colonel Kurtz, bzw. Francis Ford Coppolas Interpretation dessen in „Apocalypse Now“ als der Archetyp des kolonialen Wahnsinns; als eine Figur die in der Einsamkeit ihrer Macht den Verstand verliert. [↩]
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