Der falsche Film zur falschen Zeit. Audiard erfindet die Gewalt.
Originaltitel: Dheepan
Alternativtitel: Dheepan — Dämonen und Wunder
Produktionsland: Frankreich
Veröffentlichungsjahr: 2015
Regie: Jacques Audiard
Drehbuch: Jacques Audiard
Produktion: Pascal Caucheteux
Kamera: Eponine Momenceau
Montage: Juliette Welfling
Musik: Nicolas Jaar
Darsteller: Antonythasan Jesuthasan, Kalieaswari Srinivasan, Claudine Vinasithamby, Vincent Rottiersm, Marc Zinga u.A.
Laufzeit: 109 Minuten
In dem französischen Sozialdrama „Dämonen und Wunder – Dheepan“ flieht ein Mann (Jesuthasan Antonythasan) aus Sri Lanka und will einen Neuanfang in Frankreich wagen. In einem Flüchtlingscamp bekommt er den Pass eines Verstorbenen und so nimmt der ehemalige tamilische Soldat nun den Namen und die Identität des Toten an: Dheepan. Er will weg aus seiner vom Bürgerkrieg zerrütteten Heimat und hofft auf ein besseres Leben in Frankreich. Da er glaubt, bessere Chancen auf eine Aufenthaltsgenehmigung zu haben, wenn er mit Familie einwandert, gibt er Yalini (Kalieaswari Srinivasan) als seine Frau und Illayaal (Claudine Vinasithamby) als ihre gemeinsame neunjährige Tochter aus, obwohl sie sich eigentlich kaum kennen. In Frankreich angekommen, wird ihnen allerdings bewusst, dass es auch hier so einige Hindernisse zu überwinden gilt und dass der Aufbau eines neuen Lebens im Vorort von Paris nicht so einfach ist wie zuvor gedacht. Sie müssen zusammenhalten und alles geben, um ihre Ängste sowie die Sprachbarrieren zu überwinden und kulturellen Unterschiede so gut es geht zu meistern.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Cannes-Jurys sind in der Regel zuverlässige Bewertungsinstanzen. Selbst in Jahren, in denen sich die meisten Beobachter einig waren, dass es mindestens einen besseren Film im Wettbewerb gab, sind die Jury-Entscheidungen unter gewissen Gesichtspunkten nachvollziehbar. 2015 mutete die Entscheidung aber geradezu grotesk an. Klar, „Dheepan“ ist ein politischer Film, dessen Goldene Palme man im Licht der ganzeuropäischen Flüchtlingskrise betrachten muss. Aber trotzdem oder gerade deswegen kann man bei dieser Entscheidung nur mit dem Kopf schütteln. Jacques Audiard — ein Regisseur, dessen Palmenwürdigkeit ohnehin fragwürdig ist — holt den wohl wichtigsten Preis der Filmwelt mit einem unausgegorenen und unsinnigen Migrationsthriller, dessen Vortragsernst im Kontrast zur unglaubwürdigen Handlung irritiert und auch gänzlich unangebracht ist. „Dheepan“ unterstreicht traurigerweise, dass Cannes nicht zur Berlinale als politische Anstalt verkommen sollte, sondern weiterhin in aller erster Linie Filmkunst auszeichnen sollte.
Die Integration nach der Flucht
Zugegebenermaßen ist der Bürgerkrieg in Sri Lanka, mit geschätzt immerhin ca. 100.000 Toten, kein besonders präsentes Thema in westlichen Medien. „Dheepan“ greift hier aber auch nur kurz thematisch ein, indem dieser Bürgerkrieg der Flüchtlingskontext des Protagonisten Dheepan ist. Über den Krieg erfahren wir wenig und die Entscheidung, tamilische Flüchtlinge und nicht etwa syrische ins Geschehen zu rücken, könnte mit der Wahl des Hauptdarstellers zu tun gehabt haben, der tatsächlich ebenjenen Bürgerkrieg miterlebte und/oder mit einer beabsichtigten Abkehr vom klassischen Fluchtszenario, um die Flucht an sich zu universalisieren, wie es „Mediterranea“ erfolgreich tat. Wo es bei „Mediterranea“ von Jonas Carpignano allerdings wirklich um die Flucht geht, ist bei „Dheepan“ der Folgeschritt im Fokus: Das Einleben, die „Integration“. Und hier ist es zunächst sehr interessant, dass Audiard eine Schein-Familie als erzählerisches Zentrum wählt. Dheepan und seine Familie haben eigentlich nichts mit einander gemein, sie müssen aber eine Verwandschaft vortäuschen, um in Europa Asyl gewährt zu bekommen. Dass Audiard hier klipp und klar empathisch auf der Seite der Familie steht und damit diesen bürokratischen Betrug als Kavaliersdelikt entschuldigt, soll allerdings das einzig gelungene Statement des Films bleiben.
Crime-Thriller am Rand zur Groteske
Denn nach einer soliden (aber auch keinesfall brillanten) Sozialstudie, in der „Dheepan“ die Mechanismen der provisorischen Scheinfamilie hier und da interessant ausleuchtet, eskaliert der Film dann in einen Crime-Thriller, der trotz hoher technischen Qualität aufgrund seiner abstrusen Gewaltspirale eine Groteske zu streifen droht. Hier akkumuliert der Film auf einmal all seine Missqualitäten zu einem unfassbar daneben liegendem Finale. Die Figurenentwicklung, die aus dem schweigsamen Dheepan eine Killermaschine macht, nur weil er mal im Bürgerkrieg gekämpft hat, ist noch eine verzeihbare Schwäche. Völlig irritieren tut aber ein angeblicher Drogenkrieg in einer französischen Kleinstadt, bei der zu keinem Zeitpunkt Polizei-Präsenz vorkommt und mexikanische Verhältnisse schlichtweg behauptet werden (Das Finale ist nach Audiards Aussage eine „mögliche Entwicklung“ der Exposition). „Dheepan“ hat ein eskalatives und lautes Ende, das einem vorkommt, als wolle der Film dem Zuschauer irgendwas beweisen. Glaubwürdigkeit wäre hier eine essenzielle Zutat gewesen. Aber Audiard erreicht diese nicht, weil er trotz fast zwei Stunden Spielzeit einfach kein Gefühl für authentische Transitionen vom dramatischen ins Thriller-Genre vorweisen kann.
Ein Film wie Gift für den Flüchtlingsdiskurs
Was diesen Film schlussendlich absolut unbrauchbar und unterirdisch macht, ist dass seine endgültig proklamierte Aussage nicht einmal besonders hilfreich für den Flüchtlingsdiskurs ist, sondern im Gegenteil eher sogar abträglich scheint. „Dheepan“ zeigt nämlich letzten Endes vor allem eins: Dass Flüchtlinge kulturelle Differenzen und rohe, blutige, kollateralschadende Gewalt mit sich bringen. Rechtsextreme Gewalt oder das Leid, das Flüchtlinge zu ihrer Flucht bewegte, wird nicht gezeigt. Einmal sagt die Schein-Frau Yalini zu Dheepan, er solle die Welt mit mehr Humor begegnen. Vielleicht wäre das auch dem Film selbst ein Vorteil gewesen, denn gerade in seinem fatalen Ende, das bierernst verstanden werden will, macht sich der Film alle eigenen Ansprüche kaputt. Audiards siebenter Spielfilm jedenfalls scheint vor der Vision einer friedlichen Koexistenz zu kapitulieren, stattdessen malt er Gewalt, die (noch) gar nicht da ist, fiktiv wie den Teufel an die Wand, anstatt sich wie „Mediterranea“ z.B. wenigstens auf reale Geschehnisse zu beziehen und ehrlich mit ihnen umzugehen. Dieser Surplus an ratlos machenden Entscheidungen macht „Dheepan“ zu dem womöglich schlechtesten Cannes-Gewinner aller Zeiten (zugegeben in einem ziemlich schwachen Jahrgang). Der falsche Film zur falschen Zeit.
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