Liebe als politischer Kompromiss zwischen Sicherheit und Freiheit.
Originaltitel: Gegen die Wand
Alternativtitel: Head-On, Duvara Karşı
Produktionsland: Deutschland, Türkei
Veröffentlichungsjahr: 2004
Regie: Fatih Akin
Drehbuch: Fatih Akin
Bildgestaltung: Rainer Klausmann
Produktion: Stefan Schubert, Ralph Schwingel
Montage: Andrew Bird
Darsteller: Birol Ünel, Sibel Kekilli, Catrin Striebeck, Güven Kıraç, Meltem Cumbul, Stefan Gebelhoff, Demir Gökgöl, Cem Akin, Aysel Iscan, Francesco Fiannaca, Mona Mur, Ralph Misske, Philipp Baltus, Zarah Jane McKenzie, Hermann Lause, Orhan Güner, Adam Bousdoukos, Mehmet Kurtuluş, Selim Erdoğan, Tim Seyfi, İdil Üner, Maceo Parker, Fanfare Ciocarlia, Feridun Koç, Tulga Serim, Tugay Erverdi, Andreas Thiel
Laufzeit 121 Minuten
Der 40-jährige Cahit (Birol Ünel) fährt stark alkoholisiert mit seinem Auto ungebremst gegen eine Hauswand. Während seines anschließenden Krankenhausaufenthaltes lernt er die junge Sibel (Sibel Kekilli) kennen, die sich wie Cahit wegen eines Suizidversuchs dort aufhält. Um der Strenge ihres türkischen Elternhauses zu entkommen, ist Sibel zu allem bereit. Sie bittet in ihrer Verzweiflung Cahit mit ihr eine Scheinehe einzugehen. Dieser willigt nach einem weiteren Selbstmorversuch Sibels ein. Für einen kurzen Moment scheint es, als könnten beide glücklich werden: Sibel gewinnt ihre lang ersehnte Freiheit und Cahit versucht, sein verpfuschtes Leben in den Griff zu bekommen. Doch er muss sich eingestehen, dass er mehr für Sibel empfindet und nicht einfach so zusehen kann, wie sie ihr Leben in vollen Zügen genießt.
Quelle: moviepilot.de
Zuerst erschienen als Hausarbeit im Seminar „Film und Philosophie“
an der Bauhaus Universität Weimar, 30.04.2015
Das Sozialdrama als Gattung des filmischen Mediums findet nur äußerst selten Einbezug in den philosophischen Begleitdiskurs des Films. Das liegt daran, dass Sozialdramen in ihren inhaltlichen Anliegen eher politischer, also konkret an Sachverhalten des Tagesgeschehens interessiert sind, als einem universellen Thema Rechnung zu tragen. Das fängt schon in der Pionierzeit des Genres an, die man wohl dem Neorealismus zuschreiben muss. Filme wie „Bicycle Thieves“ oder „Rome, Open City“ erschienen zu ihrer Zeit als sozialpolitische Plädoyers oder kritisierten sogar offenkundig den Faschismus. Aber der universelle Kern – und natürlich hatten auch diese Filme einen solchen – stand kaum im Fokus der Filmrezeption. Für die philosophische Diskussion am filmischen Medium halten zudem bevorzugt Filme her, die ein Sujet fernab eines konkreten Sozialrealismus bedienen. Filme wie „Blade Runner“, „The Matrix“ oder „2001 — A Space Odyssey“, die das Menschsein in viel größeren Maßstäben verhandeln (wollen) als ein Sozialdrama, das in erster Linie darauf bedacht ist, in einer denkbaren und nachfühlbaren Wirklichkeit zu spielen.Dass aber auch der unbetonte, universelle Kern eines solchen Films eine hohe philosophische Komplexität erreichen kann, die eine Auseinandersetzung mit den oben genannten Werken vergleichbarer Tiefe rechtfertigen kann, ist eine Eingangsthese dieser Hausarbeit. Hierbei ist natürlich darauf zu achten, dass das vorliegende Sozialdrama neben seiner sozialpolitischen auch eine universell-philosophische Ebene mit ähnlicher Valenz beinhaltet oder sogar zu beobachten ist, dass sich die Ebenen interdependent zu einander verhalten. Ein Film solcher politikphilosophischer Tragweite ist meines Erachtens Fatih Akins Durchbruchsfilm „Gegen die Wand“, der auf der Berlinale 2004 den Goldenen Bären gewinnen konnte und allererster Linie als ein Migrations-Drama verstanden wurde. Aber zeigt uns „Gegen die Wand“ eben auch die Liebe in all ihren Facetten und gesellschaftlichen Konditionen bzw. Konditionierungen, wie auch – meiner Interpretationsweise nach – eine beispielhafte Gegenüberstellung der menschlichen Freiheit mit ihrem Gegensatz der Sicherheit. Die Akzeptanz dieser Interpretation muss für die folgende Hausarbeit vorausgesetzt sein, aber nichts anderes als eine Interpretation, wenn auch eine vom Autoren (mehr oder minder) verifizierte, ist ja auch z.B die Annahme, „The Matrix“ bezöge sich auf das Platonsche Höhlengleichnis oder „2001 — A Space Odyssey“ auf die Menschwerdung. Nach einer Synopsis und der Herausarbeitung, wie Fatih Akins Film narrativ organisiert ist, wird nach kurzem Ausblick auf die sozialpolitische Dimension, auf die sein Film immer wieder reduziert wird, ausführlich die Gegenüberstellung von Sicherheit und Freiheit in „Gegen die Wand“ diskutiert und welche Rolle die Liebe darin spielt.
2. Synopsis
In einem Krankenhaus lernen sich die beiden Deutschtürken Cahit Tomruk (Birol Ünel) und Sibel Güner (Sibel Kekilli) kennen. Sie haben beide einen schweren Selbstmordversuch hinter sich. Cahit fuhr mit einem Auto aus zunächst ungeklärtem Motiv gegen eine Wand, Sibel schlitzte sich die Armpulsader auf, weil sie mit ihrer Vorstellung von freier Liebe in ihrem repressiven muslimisch konservativen Elternhaus, samt dominantem Bruder (Cem Akin), nicht weiter wusste. In Cahit erkennt Sibel eine Lösung ihres Problems; sie schlägt ihm kurzerhand eine Schein-Ehe vor, damit sie unterm Deckmantel der normalen muslimischen Ehe ein freies Sexualleben führen könne. Cahit geht nach anfänglicher Skepsis die Ehe schließlich aus Gewissensgründen ein, denn sonst drohe Sibel sich umzubringen. Schließlich heiratet der deutlich ältere Cahit die postpubertäre Sibel, durchleidet nach der Hochzeit jedoch einen Wutanfall, weil Sibel seine Ex-Frau thematisiert. Sibel nimmt eine Friseur-Ausbildung bei Cahits Sex-Freundin Maren an (Catrin Striebeck) und beginnt ihre promisken Pläne in die Tat umzusetzen. Cahit verliebt sich aber in Sibel und schlägt aus wütendem Affekt den Nebenbuhler Nico (Stefan Gebelhof) tot, der Cahits Ehemann-Ehre hinterfragt und ihn provoziert. Die Ehe scheitert durch diesen Skandal: Cahit muss ins Gefägnis, Sibel vor ihrer Familie in die Türkei fliehen. Dort findet sie Unterschlupf bei ihrer Cousine und Hotel-Chefin Selma (Meltem Cumbul), die sie sehr verehrt. Hier schreibt sie, die ihn nun ebenso liebt, Briefe an Cahit, die ihm zum Durchhalten motivieren und ihm eine Beziehung mit ihr nach dem Gefängnis verheißen. Doch auch Selma enttäuscht Sibel mit ihrer erwachsenen, seriöse Einstellung zum Leben. Sibel zieht durch Istanbul und sucht nach harten Drogen. Nach einer durchzechten Nacht wird Sibel von einem Bar-Mann (Mehmet Kurtuluş) vergewaltigt und schließlich von einer Gruppe fremder Männer beinahe zu Tode geprügelt. Ein Taxifahrer entdeckt die schwer verwundete Sibel schließlich und bringt sie in Sicherheit. Cahit kommt Jahre später aus dem Gefängnis und will Sibel in Istanbul aufsuchen. Über Selma, die er schon immer verachtete, findet er schließlich Sibels Telefonnummer. Sie verabreden sich in einem Hotel, schlafen miteinander und planen ihre gemeinsame Zukunft in Cahits Heimat Mersin. Sibel, die den Taxifahrer mittlerweile geheiratet und ein Kind von ihm hat, entscheidet sich aber schließlich gegen die Flucht vor ihrer neuen Familie und für diese. Cahit wartet daher vergeblich auf Sibel an dem ausgemachten Treffpunkt und fährt ohne sie in seine Heimat Mersin.
3. Die symbolisch-realistische Narrationsstrategie
Fatih Akins Film hält mit der Verwendung von Symbolen die Möglichkeit einer Meta-Narration aufrecht, die den Film über seinen sozialdramatischen Gehalt hinaus für universellere Themen aufstellt. Tatsächlich ist „Gegen die Wand“ ein höchst symbolischer Film, wobei seine Symbolik aber nie sein realistisches Medium bricht. Umso mehr ein Film auf offensichtliche Symbole zurückgreift, umso phantastischer und unrealistischer wirkt er meistens. Als Beispiel sei an dieser Stelle der extrem symbolische Film „Love Exposure“ von Shion Sono aus dem Jahre 2008 aufgeführt, der prima facie nichts mit Akins Film gemein hat, aber im Grunde genommen eine ähnliche Konstellation aufweist: Hier sind auch zwei Prinzipien — das Faschistische und das Anarchistische — mit einander konfrontiert und auch hier ist die Liebe der Schlüssel zum Frieden. Sonos Film setzt massiv auf eindeutige Symbole, wie etwa die christliche Maria-Figur, die Farben schwarz und weiß, Phallussymbole usw. Sonos Film kann das mit derartiger Entschiedenheit tun, weil er keinen Realismus aufrechterhalten muss oder will, um seine Geschichte zu erzählen. Der Effekt ist, dass diese zwar epische Ausmaße erreicht, aber märchenhaft und überzeichnet wirkt, man um die Fantasie beraubt wird, eine solche Geschichte könne auch in der Realität stattfinden. Akins Film hingegen platziert subtile Symbole, die natürlicher Teil der diegetischen Welt sind, um die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte nicht zu untergraben. Selbstverständlich erfindet Akin diese Übereinkunft von Symbolismus und Realismus nicht, aber er bietet einen Film, an dem man diesen Ansatz besonders gut nachvollziehen kann. Akin erreicht hier ein hohes Maß an Symbolik innerhalb einer realistisch wahrgenommenen diegetischen Welt. Weder handwerklich noch dramatisch ist der Realismusgrad in „Gegen die Wand“ mit der psychologischen Tiefengeduld eines Abbas Kiarostamis oder Nuri Bilge Ceylans zu vergleichen, bei denen diegetische Zeit mit realer Zeit beinahe zusammenfällt. Es ist eher eine mitgehende und -fühlende statt einer voyeuristischen Spielweise des Realismus, die Akin ausmacht. Auf Dialogebene erreicht der Film seinen Realismus durch die Verwendung von Soziolekt, einer sehr authentischen Darstellung seiner Figurensprechweisen, in der Akin dennoch immer wieder poetische Gedanken implementiert. Dadurch sind seine Figuren ambivalent lesbar. Wenn Cahit z.B. aus dem Gefängnis kommt und er Selma in einem langen Monolog auf englisch fragt, ob sie stark genug sei, sich zwischen Sibel und ihn zu stellen, ist er gleichermaßen ein einfacher Ex-Häftling, der seine Zeit im Gefängnis damit verbrachte, eine Rede für seine Begegnung mit Selma vorzubereiten (und dabei genug Zeit hatte englisch zu lernen etc.), als auch so etwas wie eine poetisch überhöhte Figur, die sich an seiner Widersacherin aus mächtigerem Stand rächt, indem er sich mit ihr plötzlich auf Augenhöhe duelliert und triumphal eine neue Fähigkeit dazu anwendet. Auch rein narrativ wagt Akin den Versuch eines Dramas epischen Ausmaßes. In fünf Akte unterteilt, folgt er der klassischen Fünf-Akt-Struktur nicht nur, er akzentuiert sie sogar mit einem orientalischen Orchester als Entracte. Auch die konsequente Teilung des Films in zwei (räumliche) Hälften gehört zur narrativen Strategie des Films: Die erste, in Deutschland angesiedelte Hälfte fällt durch eine energetische, bewegliche Kamera auf. Kameramann Rainer Klausmann setzt in erhöhtem Maß auf Handkamera-Einstellungen, sowie verschiedene experimentelle Shots wie kurzfristige einfrierende Bilder in einer Szene, in der Cahit und Sibel losgelöst in ihre Wohnung feiern. Auch ist der Musikeinsatz in der Hamburg-Hälfte wesentlich auffälliger un popmusikreferenzieller („Temple of Love“, „After Laughter“ usw.) als in der Istanbul-Hälfte. Das letzte Viertel des Films als Cahit schließlich nach Istanbul nachreist und Sibel sucht, ist sogar vollkommen ohne Musikeinsatz und in einer wesentlich ruhigeren und distanzierten Kamera-Arbeit gehalten. Sehr eindrucksvoll ist dieser Kontrast, in der zunächst unvollendeten Sex-Szene in Hamburg im Vergleich mit der schließlich vollendeten in Istanbul zu erkennen Der Sex in Hamburg ist, obwohl (oder gerade weil) er nicht zum Abschluss kommt, von einer deutlich größeren schauspielerischen Emotionalität, kameratechnischer Nähe und farblicher Wärme als der obligatorische Sex der beiden im Istanbuler Hotelzimmer. Mit filmtechnischen Mitteln drückt Akin hier eine Drittelung aus: Rausch (Hamburg), Absturz (Istanbul ohne Cahit) und Kater-Stimmung (Istanbul mit Cahit). Ein Film, der die Drogen, wie noch gezeigt wird, als ein Symbol der Freiheit anwendet, fühlt sich also auch auf einer erlebte Zuschauerebene an wie der Konsum dieser rauschhaften Substanzen und macht somit das Erleben selbst zu einem Symbol, der Gleichsetzung des Lebens, der Liebe, der Leidenschaft mit einem psychoaktiven Zustand und seinem Vor- und Nachher. Also eben nicht nur dem Rausch, sondern auch seiner Ursache und seinem Abklang. Mit einer derartigen narrativ-strukturellen Rahmung und dem Einsatz spezifischer filmischer Mittel überhöht Akin also eine Geschichte, auch wenn sie einen sozialdramatischen, immanenten Ker haben mag, zu einer Abhandlung nicht nur über die spezifisch soziokulturelle Bedingung des Menschsein, sondern eben zu einem universellen Denkspiegel über Liebe und Vergänglichkeit, Sicherheit und Freiheit (auf das sich diese Arbeit fokussieren will) und vielen anderen interpretativen Zugängen, die „Gegen die Wand“ aufgrund seiner erzählerischen Strategie fruchtbar macht.
4. Sozialpolitische Dimension
„Gegen die Wand“ ist ein Film, der sich durchaus als gesellschaftspolitischer Kommentar auf die Bundesrepublik Deutschland lesen lässt. Allerdings behandelt er nicht den Anfang des Migrationsprozesses mit Hindernissen wie Sprachbarrieren, Kulturbarrieren und Rassismus wie etwa Rainer Werner Fassbinders „Angst Essen Seele Auf“, er formuliert Migration als etwas, das bereits selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft ist. Als einen fortgeschrittenen, aber permanent fortschreitenden und heterogen ausgeprägten Prozess. Cahit scheint vollständig integriert. Er verhält sich wie die Deutschen, die ihn umgeben. Er ist nicht religiös, nicht patriarchisch veranlagt, konsumiert Alkohol und Drogen und ist unabhängig von familiären Traditionen und Erwartungen. Symbolischerweise spricht Cahit mittlerweile deutlich besser deutsch als türkisch. Die entgegengesetzte Position nimmt Sibel ein. Sie begehrt den Lebenssti von Cahit zwar, aber ist durch ihr Elternhaus ausgebremst, welches alles vereint, was eine Integration in die deutsche Gesellschaft im Wege zu stehen scheint. Ihre Eltern sind konservative traditionsorientierte Muslime, die nur einen Muslim als Schwiegersohn akzeptieren, Sex vor der Ehe verbieten und patriarchalische Werte vertreten.1
Zwar spart Akin die Thematisierung von Migration nicht so entschieden wie etwa Farhadi in „Le Passé“ aus, der durch völlige Nicht-Thematisiserung das Selbstverständnis von Migration betont, aber vor allem in Hinblick auf das Ende des Films, das Deutschland als Handlungsort komplett verlässt, wird deutlich, dass Akin weniger am Bedienen klassischer Migrationsdiskurse interessiert ist, sie eher nutzt, um ein authentisches Bild gelebten Multikulturalismusses zu bieten2 und seine universelle Liebesgeschichte zu ermöglichen. Zwischen seinem nicht dezidiert vorgetragene Migrationskonflikt und der universellen Liebesgeschichte, bewahrt sich „Gegen die Wand“ nun eine dritte Leseart: Das Konträrverhältnis des Konservativismus zum Liberalismus als mehr oder weniger entpolitisierte Generalprinzipien. Zwar ist der Konservativismus hier durchweg anhand islamischer Strukturen gezeichnet, aber dieser zentrale Konflikt in „Gegen die Wand“ wird völlig aus einem muslimischen Integrationsdiskurs herausgehoben. Der Islam ist hier im Grunde eine Variable. Beide Extreme haben im Film ihre eigenen Symbole, wie sie im vorherigen Subkapitel als konstitutives Erzählmittel des Films herausgestellt habe. Zwei davon halte ich für besonders auffällig: Für den Konservativismus steht neben der Familie vor allem die Hochzeit, für den Liberalismus vor allem der Drogenkonsum, aber auch der Sex ist symbolisch aufgeladen und lässt sich als Zeichen liberalen Lifestyles interpretieren, wird er doch kein einziges Mal im Kontext einer konservativen Ehe gezeigt. Die Hochzeit ist das Ende jeglicher jugendlicher Freiheit und der Anbeginn einer ernsthaften, lebenslangen Bindung. Die Drogen symbolisieren den hedonistischen Genuss des Moments, die Zelebrierung der Jugend und Freiheit. Bei der Hochzeit von Cahit und Sibel treffen beide Symbole auf einander: Cahit erscheint betrunken zur Hochzeit und konsumiert zusammen mit Sibel Amphetamin3 auf dem Hochzeitsfest. Die Hochzeit als konservative Handlung wird hier ironisch gebrochen. Die Protagonisten erfüllen die Konvention, um sie gleichzeitig zu unterwandern. Sibel geht nur die nach Außen hin konservative Handlung der Heirat ein, um an das liberale Lebensgefühl, symbolisiert durch Drogen, zu gelangen. Im weiteren Verlauf des Films tauchen diese konservativen und liberalen Symbole immer wieder auf. Auf die Gegenüberstellung von Konservativismus und Liberalismus, Sicherheit und Freiheit, als zentraler Konflikt in „Gegen die Wand“ wird im nächsten Subkapitel näher eingegangen.
5. Die Freiheit und ihr Gegensatz
Nach Thomas Hobbes ist die menschliche Freiheit eine Abwesenheit aller äußere Hindernisse, bzw. die im Naturzustand vorkommende Absenz (gesellschaftlicher) Normen jeglicher Art.4 Da der Naturzustand durch den Gesellschaftsvertrag bzw. Unterwerfungsvertrag5 abgelöst ist, ist auch die Freiheit in ihrer Reinform für den Menschen nicht mehr zu erreichen. Der Mensch hat sich zu einer Gemeinschaft zusammengefunden, der es gemein ist, ein Teil der Rechte ihrer Individuen an eine Staatsmacht, den Leviathan, abzutreten und dafür ebenso die Recht-Abtretung anderer Menschen der Gemeinschaft garantiert zu bekommen. Im Naturzustand ist die Freiheit des Individuums gleichzeitig die Unfreiheit eines anderen Individuums, weswegen er analog eines Kriegszustandes ist.6 Die im Naturzustand vorkommende Bewertung von Handlungen nach reinem Nützlichkeitsprinzip ist nun abgeschafft und durch einen Moralkodex ersetzt, der von einer Machtinstanz durchgesetzt wird, die individuelles Überschreiten dieses Kodex‘ mit Gewalt bestraft. Zwangsläufig würde der Mensch immer wieder vom unerträglichen Naturzustand zum soziokulturell begründeten Vertrag (zurück)kehren: „Der Kriegszustand ist dann die Demonstration der Notwendigkeit des Staates, argumentatives Hilfsmittel, den einzelnen ihre fehlende Sicherheit vor Augen zu führen.“7 Hieraus ergibt sich der Begriff, der zwangsläufig als oppositionelles Gegenstück zur Freiheit gedacht werden muss: die Sicherheit. Der Mensch kommt als völlig freies Individuum auf die Welt und opfert diese völlige Freiheit, indem er die Gemeinschaft errichtet, als Selbstbeschränkung, um sein Überleben, seine Gesundheit und paradoxer Weise ein gewisses Maß auch seiner Freiheit zu sichern. Freiheit und Sicherheit befinden sich also in einem bipolaren Oppositionsmodell, das sich aber in Relationen und keinesfalls im kompletten gegenseitigen Ausschließen denken lässt. Wo mehr Freiheit ist, ist weniger Sicherheit. Wo mehr Sicherheit ist, ist weniger Freiheit. Zwar bedeutet die völlige Freiheit des Naturzustands auch die totale Absenz der Sicherheit und eine dystopische totale Sicherheit auch eine völlig ausbleibende Freiheit, allerdings sind diese Extreme in der soziologischen Realität unmöglich zu realisierende Extreme, es gibt also immer ein Mindestmaß des jeweiligen Pols, wenn auch das jeweilige Überwiegen einer der Pole deutlich erkennbar sein kann. Diese Gemeinschaft ist mit Robert Espositos Modell der Communitas vergleichbar. Esposito stellte mit etymologischer Vorgehensweise heraus, dass die Gemeinschaft (Communitas) im strengeren Sinne nicht durch eine Gabe des Gemeinsamen, sondern durch eine Pflicht des Gemeinsamen und somit einer Unfreiheit definiert ist. Gleichzeitig stellt er darin auch sein Gegensatzpaar der Communitas mit der Immunitas vor:
„Obschon mit der Warnung, dass es sich nicht um eine belegte Bedeutung handelt, teilen sie uns mit, dass der antike und vermutlich ursprüngliche Sinn von communis ‚derjenige, der eine Last (ein Amt, eine Aufgabe) mir anderen teilt‘ gewesen sein muss. Daraus ergibt sich, dass communitas die Gesamtheit von Personen ist, die nicht durch eine ‚Eigenschaft‘, ein ‚Eigentum‘ [proprietà], sondern eben durch eine Pflicht, eine Schuld vereint sind. Nicht durch ein ‚Mehr‘, sondern durch ein ‚Weniger‘, durch eine Fehlen, durch eine Grenze, die sich als Last darstellt, oder sogar als defektive Modalität für denjenigen, der davon ‚behaftet‘ ist, im Unterschied zu dem, der davon ‚befreit‘ oder ‚entbunden‘ ist. Und hier nun nimmt die letzte und charakteristischste der Gegensatzpaarungen Gestalt an, die an di Seite bzw. an die Stelle der Alternative Öffentlich/Privat tritt, jene nämlich, die communitas und immunitas einander entgegensetzt: Während communis der ist, der zur Erfüllung eines Dienstes – oder zur Spende einer Gunst [grazia] angehalten ist, ist immunis im Gegenteil derjenige, der keinerlei Amt ausfüllt […] und ingratus bleiben kann. Durch eine vacatio muneris vermag er die eigene Substanz unangetastet zu halten. Während die communitas an das Opfer der compensatio gebunden ist, impliziert die immunitas die Wohltat der dispensatio.“8
Diese Immunitas ist der Gedanke einer Immunisierung vor einer oppositionellen, schädlichen Kraft. Eine Institution könne laut Esposito sich vor der Zersetzung durch einen Gegensatz schützen, indem ein kleiner Teil dieses Gegensatzes wie eine Impfung in die Institution eingebunden wird und diese somit immunisiert.
„Dem Übel muss entgegen getreten werden – Doch nicht, indem man es von den eigenen Grenzen fernhält. Sondern im Gegenteil durch Einschluss innerhalb dieser Grenzen. Die dialektische Figur, die sich so abzeichnet, ist jene einer ausschließenden Einschließung beziehungsweise einer Ausschließung durch Einschließung. Das Gift ist vom Organismus nicht dann besiegt, wenn es aus ihm herausgestoßen ist, sondern wenn es in gewisser Weise zu einem Teil von ihm wird. Wie schon gesagt: Die Immunitätslogik verweist auf eine Nicht-Negation, auf die Negation einer Negation. Das Negative überlebt die Kultur nicht nur, sondern konstituiert die Bedingung für ihre Wirksamkeit. Es ist, als zerfiele es in zwei Hälften, deren eine zur Eindämmung der anderen notwendig ist – ein kleineres Übel, dazu bestimmt, da größere zu blockieren, jedoch innerhalb desselben Codes.“9 Dieses Übel lässt sich natürlich auf das Freiheits-Thema bezogen in beiderlei Hinsicht lesen: Einerseits als Immunisierung der Freiheit vor dem Übel der Sicherheit durch Einschluss eines gewissen Maßes an dieser Sicherheit. Andererseits als Immunisierung der Sicherheit vor dem Übel der Freiheit durch Einschluss eines gewissen Maßes an ebenjener Freiheit. Allerdings, so konstatiert Esposito später in seinem Buch, ist in der idealen Immunisierung zwangsläufig auch eine effektive Umkehrung des Übels inbegriffen: „Nichts hat eine ähnliche Stärkungswirkung wie ein unter Kontrolle gehaltenes und gegen sich selbst gekehrtes Übel für den politischen Körper, der es beherbergt.“10 Übertragen wir diese Überlegungen nun auf den Film „Gegen die Wand“: Da der Film in einer konkreten sozialpolitischen Film-Realität spielt, ist es zu empfehlen, die filminhärenten Konditionen soziokultureller Art mit Begriffen der Freiheits-Philosophie äquivalent zu setzen. Ein Konservativismus, also einer Sicherung einer bereits vorhandenen Gemeinschaftsform lässt sich dem Prinzip der Sicherheit zuordnen. Dieser Konservativismus geht in „Gegen die Wand“ aus der muslimisch-traditionellen Erziehung Sibel Güners heraus und stellt somit ihren Ursprung bzw. ihren narrativen Ausgangspunkt dar. Dem gegenüber steht Cahit Tomruk, der zwar ebenso einen deutschtürkischen ethnographischen Background hat, aber keine Familienangehörigen hat, die ihm eine Erwartungshaltung aufoktroyieren. Cahits Lebensstil entspricht deckungsgleich den der Einwohner St. Paulis. Ein Viertel Hamburgs, das für seinen alternativen, säkularisierten und liberalen Lebensstil bekannt ist. Der Liberalismus, wie ihn also Cahit und sein soziokulturelles Umfeld ausmacht, stellt ein ständiges Streben nach der (individuellen) Freiheit dar, auch wenn eine derartige gesellschaftliche bzw. individuelle Freiheit in der Gemeinschaft noch gar nicht vorhanden war und somit keine Erfahrungswerte zur Verfügung stehen, ob dieses politische Prinzip überhaupt (in ihrer beanspruchten Intensität) positiv ist. Der Liberalismus verhält sich also oppositionell zum Konservativismus, wenn auch er nicht sein exakter Gegensatz ist. Dieser wäre eine konsequente Kulmination der Communitas, also ein linksgerichtetes Modell, das, wie Esposito gezeigt hat, die Pflicht des Individuum als Teil einer Gemeinschaft erhöhe, wohingegen der Liberalismus als Annäherung an den liberal-extremen Naturzustand dem entgegensetzt ist. Trotzdem führt auch der Konservativismus dasselbe Sicherheitsprinzip mit sich, wie es die extrem-linke Position täte, wenn auch nicht in so intensiver Form. Daher lässt sich auch der Konservativismus im Gegensatz zum Liberalismus als Gegensatzpaar im Dualismus der Sicherheit und Freiheit denken.
6. Cahit, das Prinzip der Freiheit
Cahit begeht einen Selbstmordversuch und fährt am Anfang des Films gegen die titelgebende Wand. Auch wenn er im Gegensatz zu Sibel frei ist, über sein eigenes Handeln bestimmen kann, keiner soziokulturellen Partei Rechenschaft schuldig ist, trägt er eine tiefe Todessehnsucht in sich. Gerade deswegen ist Cahit unglücklich. Sozialpolitisch als Identifikationslosigkeit zwischen türkischer Herkunft und Kiez-Lebensstil lesbar, ist ihm universeller ausgelegt die Freiheit seines liberalen Lebensstils eine Unfreiheit. Er ist ein Heimatloser, der nach keinen klaren Idealen oder Prinzipien lebt. Er hat seitdem er verwitwet ist, niemanden der ihn liebt und vice versa, der seiner Einsamkeit entgegenwirkt, welche sich in einem (Selbst)-Destruktionstrieb11 artikuliert. Erich Fromm dazu: „Das tiefste Bedürfnis des Menschen ist demnach, seine Abgetrenntheit zu überwinden und aus dem Gefängnis seiner Einsamkeit herauszukommen. Ein absolutes Scheitern bei diesem Versuch führt zum Wahnsinn, weil das panische Entsetzen vor einer völligen Isolation nur dadurch zu überwinden ist, dass man sich völlig von der Außenwelt zurückzieht, dass das Gefühl des Abgetrenntseins verschwindet, und zwar weil die Außenwelt, von der man abgetrennt ist, verschwunden ist.“12 Tatsächlich hat Cahit alle Erinnerungen seiner ehemaligen Frau aus seinem Leben gekürzt. Er redet gar nicht mehr über sie, der Zuschauer erfährt schließlich erst genauso spät wie Sibel von seiner Frau. Und in der Sex-Beziehung mit Maren hat er eine Zwischenmenschlichkeit, die sich
hauptsächlich auf Triebbefriedigung reduzieren lässt. Sicher ist hier auch ein Maß an Zärtlichkeit gegeben, jedoch eines, das eher einer (weiteren) sozialen Verwahrlosung entgegenwirkt. Cahit liebt Maren ganz einfach nicht. Dann erscheint Sibel, der er zunächst mit Zynismus begegnet, da sie genau das haben möchte, was ihn unglücklich gemacht hat: die Freiheit. Sibel begehrt ebenjenen emotionslosen Sex, den Cahit (mit Maren) haben kann. Akin deutet an, dass er diesen Lebensstil nach seiner Ehe zur unbekannten Ex-Frau Katharina (im Prinzip ein personifizierter MacGuffin) eine längere Zeit exerzierte, ohne darin ein Glück gefunden zu haben. Cahit sucht nach etwas anderem, ist sich dieser Suche aber zunächst gar nicht bewusst. Erst innerhalb der Ehe mit Sibel, die er zunächst aus einem Gewissenskonflikt heraus eingeht, erkennt er, dass er eine Annäherung an eine konservative Lebenshaltung eigentlich für sein Glück benötigt. Auch wenn Sibels Anziehung gegenüber Cahit auch mit ihrer liberalen Lebensvision zusammenhängt, in der Cahit eine Gemeinsamkeit zu ihm erkennt, ist es eigentlich das konservative Versprechen von Sicherheit, das Cahit, als Liebe interpretiert, interessant findet. Daher verzweifelt Cahit an Sibels Feminismus und ihrem Willen nach sexueller Freizügigkeit. Er spürt, dass in einer solchen offenen Beziehung eine klassische, romantische Liebe, wie Cahit sie innerlich begehrt, in der Exklusivität ein wichtiger Teil ist, nicht möglich ist. Diese psychologisch hochkomplexe Diskrepanz zwischen einem Selbst, das sich als liberal versteht, eigentlich aber nach konservativer Sicherheit strebt auf der einen Seite, und einer Beziehung, in der das Konservative nur ein Alibi ist, um exzessiv-liberalistisch zu leben auf der anderen Seite, löst in Cahit eine solche unterbewusste Unruhe aus, dass sie sic schließlich in der Katastrophe, im Totschlag Nicos, entlädt. Cahit muss ins Gefängnis, wo ihm nur die Hoffnung auf die Liebe und die damit einhergehende Sicherheit das Durchhalten ermöglicht. Aus dem Gefängnis entlassen, sucht er Sibel als sein einziges sinnstiftendes Element im Leben in Istanbul auf. Cahit präsentiert sich als neuer Mensch, was sich optisch durch gepflegtes Aussehen (Anzug, Sonnenbrille, Frisur), aber auch im Verhalten durch geduldiges Auftreten und die souveräne Benutzung englischer Sprache bemerkbar macht. Cahit trägt das konservativ-konventionelle Prinzip der Liebe weiter, auch wenn er die Liebe selbst nicht physisch erreicht (Sibel entscheidet sich gegen ihn). Symbolisch reist Cahit in das Mersin als die Heimat seiner Eltern, erkennt seine Wurzeln, streift seine Heimatlosigkeit ab und ist endlich von seiner Todessehnsucht befreit und letztlich stärker als zum Beginn der Geschichte. Im Gegensatz zum lebensgefährlichen Auto, das er am Anfang selbst fährt, lässt er sich nun in de Sicherheit eines fremdgesteuerten Busses leiten. Allein das Wort Auto steht schon für Eigen(verantwortung), die Cahit hier am Anfang des Films im Überdruss hat und an der er zerbricht. Der Bus am Ende des Films hingegen ist nicht nur fremdgesteuert, sondern auch eine Gemeinschafts- und Schicksalsform. Ein Pars pro toto einer in der Freiheit relativierten Gesellschaft, also dem was Cahit benötigt. Dass er dieses Ziel schließlich auf dem Weg in seine Heimat Mersin erreicht, beweist, dass die türkische Heimat Cahits hier auch ein Symbol einer konservativen Welt darstellt, aus der er entstammt. Die also tief in seinem Inneren ist und von der er sich also intrinsisch angezogen fühlt, auch wenn er es erst durch die Liebe zu Sibel realisiert.
7. Sibel, das Prinzip der Sicherheit
Sibel begeht einen Selbstmordversuch aus Verzweiflung und Protest gegenüber ihrem repressiven Elternhaus. Sie begehrt eine liberale Welt, die sie als Bewohnerin des Hamburger Kiez zwar gut kennt, aber ihr von ihrer Familie aus verboten ist. Sibel hat eine feministische Vorstellung einer. Der Vorname Cahit bedeutet durchaus passenderweise „Das Herz in mir“ selbstbestimmten und -bewussten, sexuell freizügigen Frau, weswegen sich Maren schnell für sie als eine Vorbildfigur entpuppt. Durch die Heirat mit Cahit erreicht Sibel die ersehnt Freiheit und genießt sie, symbolisiert durch sexuelle Erlebnisse mit drei verschiedenen Männern. Ihr Verhalten zieht die Katastrophe, den Totschlag des Nebenbuhlers Nicos als Reaktion Cahits, nach sich, der das fragile Konstrukt, den liberalen Lebensstil auf einem konservativen Scheingerüst zu satteln, zum Einsturz bringt. Erst jetzt, und damit noch später als Cahit, realisiert sie, dass beide Liebe für einander empfinden. Sibel muss aus Hamburg nach Istanbul flüchten und hofft auf ihre Cousine Selma, die für Sibel bisher immer für eine Möglichkeit stand, Familie und die Ambitionen ihres liberalen Lebensstils in Einklang zu bringen. Aber auch dieser Versuch scheitert. Sie realisiert, dass Selma ebenso konservativ und langweilig wie ihr Elternhaus ist und kapselt sich von ihr ab. Sibel ist von nun an frei und versucht zwanghaft diese Vorzüge wieder zu einem liberalen Lebensstil auszuformen, den sie in Hamburg so genoss. Mit einer neuen Intensität im Drogenkonsum (Heroin) und damit einhergehend einer neuen Intensität des liberalen Symbols der Droge per se versucht sie verzweifelt ihr früheres Lebensgefühl zurückzubekommen. Die Vergewaltigung, die ihr in einer Bar widerfährt, führt schließlich ihr Anspruch auf freie Partnerwahl ad absurdum. Auch ihr restlichen feministisch-liberalistischen Ansprüche werden symbolisch ins Gegenteil verkehrt: Das männliche Geschlecht, das sie zunächst mit ihrem Verhalten nach Belieben beherrschte, prügelt sie anschließend halbtot und krönend wird ihr Leben von einem anderen Mann gerettet, der sie später ehelicht und damit ihren bisherigen Lebensstil komplett kontrastiert. In Istanbul erfährt Sibel somit schmerzlich die Kehrseite der Freiheit bzw. einer unkontrolliert extremen Freiheit, die dem Hobbesschen Naturzustand nahekommt. Genau das, was auch Cahit zum Selbstmordversuch trieb, treibt Sibel in Istanbul zu einem indirekten, eventuell unterbewussten Selbstmordversuch, indem sie sich von fremden Männern abstechen lässt. In Istanbul, vor diesem indirekten Selbstmordversuch ist für sie niemand da, der sie vor Gewalt und sexuellem Übergriff beschützen kann. Sie ist auch emotional völlig vereinsamt und gerät in einen Teufelskreis des Orgiasmus, den schon Erich Fromm erkannte, welcher sexuellen Exzess und Drogenexzess – solang nicht Teil der Kultur, in der sich das Individuum bewegt – als nonkonformistischen Eskapismus auswies, der aus Einsamkeit resultiere und als einzigen Ausweg ein weiteres Antreiben des Exzesses kennt und somit in einen Strudel der Einsamkeit gelangen ließe.13 Der Ausweg aus diesem Teufelskreis ist schließlich nicht ganz freiwillig. Der Taxi-Fahrer, den sie (wie zu mutmaßen ist) nicht liebt, gründet eine Familie mit ihr und drängt sie zur Gründung einer Familie; und so rekonstituiert sie damit dasselbe konservative Symbol, gegen das sie einst rebelliert hat. Ihr Name Sibel bedeutet auf deutsch passenderweise so viel wie „Regentröpfchen“: Nach erfolgreichem Allein“flug“ kehrt sie wieder in den Kreislauf zurück, aus dem sie entstammt. Für eine Rückkehr zu Cahit, der als romantische Liebe keine totale Freiheit, wie sie Sibel einst verlangte, aber nun von ihr desillusioniert und enttäuscht wurde, sondern eine gemäßigte Freiheit, also zumindest eine Beziehung ohne traditionell-gesellschaftliche Zwänge, verheißen würde, ist es letztlich zu spät. Denn Sibel hat eine eigene Familie gegründet und somit eine administrative Rolle zur Erhaltung der Sicherheit anderer inne. Diese Konformität, die eine funktionierende Gemeinschaft erst konstituiert, ist jetzt Teil Sibels Gewissen und ihres Selbst- und Werteverständnisses. Daher lässt sich mutmaßen, dass sie sogar irgendwann ihrem Kind ähnlich repressiv begegnen wird, wie es ihre Eltern bei ihr taten.
8. Fazit: Das Prinzip der Liebe als politikphilosophischer Kompromiss
„Gegen die Wand“ zeigt Liberalismus und Konservativismus, Freiheit und Sicherheit, nicht als ausschließlich konkurrierende Prinzipien, sondern als solche, die sich zusammenfinden und in der Mitte treffen müssen. Die Rolle dieses Kompromiss zwischen den beiden Polen übernimm in Akins Film die Liebe. Die Extreme beider Prinzipien stellen Sibels Familie auf konservativer und das Kiez-Milieu auf liberaler Seite dar. Sibel und Cahit entstammen zwar den extremen Positionen, wollen aber ins andere Extrem verkehren. Sibel will zunächst komplett ins gegenteilige Extrem übergehen, Cahit sich dem konservativen Prinzip zunächst nur aus einem Gewissenskonflikt gegenüber Sibels drohendem Selbstmord nähern. Im Moment, in dem beide Figuren sich über ihre Liebe klarwerden (der bei beiden minimal zeitlich versetzt stattfindet), verstehen sie jedoch, dass sich ihre Lebensideale in einem Kompromiss in der Mitte treffen müssen. Erich Fromm spricht von einer Vereinigung, von der beide Figuren zum Anfang der Narration noch weit entfernt sind und sich verzweifelt dem Leben entziehen wollen. Fromm würde von einer Selbstvernichtung sprechen: „Gelingt diese Vereinigung nicht, so bedeutet das Wahnsinn oder Vernichtung – Selbstvernichtung oder Vernichtung anderer.“14 Sibel erkennt, dass ihr extrem liberaler Lifestyle Cahit verletzt, Cahit erkennt, dass eine Scheinehe als pseudo-konservative Aktion nicht ausreicht und in eine konventionelle Ehe übergehen muss. Zum Zeitpunkt dieser Realisation ist es aber schon zu spät und zur Katastrophe gekommen, die Figuren verkehren fortan in ihr ironisches Gegenteil und finden letztendlich nicht mehr zusammen. Aber das Prinzip der Liebe als Lösung bleibt effektiv im Raum stehen, da sich dem Zuschauer aus dem Narrativ der Geschichte ergibt, dass der Verbund beider extremen Prinzipien möglich gewesen wäre, hätten beide Figuren ihre Liebe zu einander früher realisiert. Hier lässt sich die Liebe auch an Espositos Immunitas anschließen. Die Sicherheit und Freiheit immunisieren sich gegenseitig und ihren eigentlich zersetzenden, da gegensätzlichen Charakter, machen sich damit lebenswert, stabil und zukunftstauglich durch die mittelnde Liebe. Diese Übereinkunft der polarisierten Extreme der Freiheit und Sicherheit in der Liebe ist dabei genuin politischer Natur. Eine Beziehung ist politisch, Liebe ist politisch, da sie im Grunde ein Vertragsschluss ist. Es finden sich interessante Parallelen zwischen einer (romantischen, monogamen) Beziehung und einer Staatsform, wie sie Thomas Hobbes bzw. Roberto Esposito in Anschluss an Hobbes denkt:
„’Der Schrecken des Naturzustandes treibt die angsterfüllten Individuen zusammen, ihre Angst steigert sich aufs äußerste […]‘15 Und dies in dem Sinne, dass die Angst den Pakt nicht nur ergründet und erklärt, sondern ihm auch schützt und am Leben erhält. Wurde sie einmal verspürt, verlässt sie die Bühne nicht mehr. Von einer anarchischen Angst ‚vor einander‘, jener, die den Naturzustand prägt (mutuus metus), wird sie zur institutionellen, ‚gemeinen‘ Angst, wie sie für den ‚zivilen Zustand‘ bzw. den Staat kennzeichnend ist (metus potentiae communis). Doch sie verschwindet nicht, wird nicht weniger, geht nicht zurück. Die Angst wird nicht vergessen. Wie schon gesagt wurde, ist sie ein Teil von uns, wir selbst außer-uns. Sie ist unser Anderes, das uns als von uns selbst unendlich geteilte Subjekte konstituiert.“16
Das Moment der Angst ist auch in der (romantischen) Liebe ein fundamentales. Wir haben, wie Erich Fromm zeigte, das Bedürfnis zur Vereinigung aus Angst vor der Vereinsamung der Freiheit. Und in der gegenseitigen Liebe gehen wir einen Vertrag ein, der die totale Vereinsamung der Freiheit, samt der „anarchischen“ Angst vor ihr, ablöst und stattdessen eine neue, „gemeine“ Angst einsetzt, die die gemeinsame Angst vor dem Verlust der gegenseitigen Liebe darstellt: „Der Staat hat nicht die Aufgabe die Angst zu eliminieren, sondern sie „gewiss“ zu machen.“17 Und wie Esposito weiter zeigt, bedarf eine solche staatliche Gemeinschaftsform auch immer eine Angst und Ablehnung vor einer äußeren Partei, die die Angst vor einander externalisiert. In einer romantischen Beziehung wären dies alle jene Menschen, die nicht in die Beziehung involviert sind. Gegenüber diesen hat man Angst, dass sie die gegenseitige Liebe erodieren oder schlichtweg rauben könnten. Diese Überlegung zur Liebe lässt sich auch auf eine hypothetische (Liebes)beziehung übertragen, die nicht nur aus zwei, sondern mehreren Individuen besteht bis sie dann irgendwann auch quantitativ einer Gemeinschaft im klassischen Sinne gleicht. Das Wort „Prinzip“ ist schließlich besonders wichtig, denn eine tatsächliche Liebe überlebt in „Gegen die Wand“ nicht. Die dauerhafte physische Vereinigung bleibt aus und so wird auch das emotionale Residuum ihrer Liebe langsam verschwinden. Was übrig bleibt ist eine Idee de Liebe. Sibel und Cahit haben beide die Liebe empfunden und gewusst, dass sie erwidert wurde. Dieser Pakt ist also einer, der nie verwirklicht wurde, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt der Erzählung immer als positiv und begehrenswert empfunden wurde, schlussendlich nur einfach nicht umsetzbar war. Wenn wir im Gleichnis einer Staatsgründung bleiben würden, könnte man es auf Gemeinschaften wie Kurdistan, Katalonien oder Palästina beziehen, die durch ihre politischen Konditionen noch nicht in der Lage sind, einen Staat zu gründen, aber ideologisch-politisch dazu bereit wären. Das Prinzip der Staatsgründung wird also verstanden, ebenso wie die Schlüsse, die daraus zu ziehen sind, etwa, dass unterschiedliche gesellschaftliche Positionen (z.B. politische Richtungen oder ethnische Gegebenheiten) sich für einen Zusammenschluss und einer gegenseitigen Relativierung einer totalen Freiheit (die im Falle dieser Staaten aber nur hypothetisch wäre, da sie sich unter dem repressiven Einfluss anderer Staaten befinden) entschließen würden, basierend auf einer bestimmten Gemeinsamkeit (z.B. Sprache, Religion, Ethnie). Das Prinzip der Liebe ist also nicht nur das romantische, gebende Einverständnis, wie es Erich Fromm darstellt, sondern vor allem eine Vergemeinschaftung, eine Verpflichtung, Relativierung der Freiheit und eine gegenseitige, aber ausgelagerte Angst. „Gegen die Wand“ zeigt diese konträren gesellschaftlichen Positionen anhand des Konservativismus und des Liberalismus, die koexistieren können, wenn sie sich gegenseitig kennenlernen und akzeptieren (sei diese sozialpolitische Dimension in einen Migrationsdiskurs eingebunden oder nicht). Somit steckt in Akins Film auch ein Appell gegen die Extremisierung von Anschauungen, da so kein Miteinander möglich ist. Im politischen Sinne also ein Appell für die demokratische Mitte. Die Demokratie ist nicht das einzige politische Modell, in der eine Staatsgründung im Hobbesschen Sinne möglich ist, aber doch eben das nachhaltigste, erfolgversprechendste Modell, da in einem totalitären System stets stark polarisierte Kräfte um die Herrschaft konkurrieren, die eben nicht in der Nähe einer Mittelwegsfindung, also eines solchen Liebesprinzips, zu suchen sind (selbst, wenn eines der politischen Pole übermächtig scheint, sind ihm im Totalitarismus immer Gegenwehr in Form von Unzufriedenheit gewiss). Der Totalitarismus muss Konformität, also Einverständnis der Zusammenkunft, mit Gewalt einfordern. Die Demokratie handelt in diese Richtung eigeninitiativ und ist somit stabiler:
„Diktatorische Systeme wenden Drohung und Terror an, um diese Konformität zu erreichen, die demokratischen Staaten bedienen sich zu diesem Zwecke Suggestion und der Propaganda. Ein großer Unterschied besteht allerdings zwischen diesen beiden Systemen: In Demokratien ist Nicht-Konformität möglich und fehlt auch keineswegs völlig; in den totalitären Systemen kann man höchstens von ein paar aus dem Rahmen fallenden Helden und Märtyrern erwarten, dass sie den Gehorsam verweigern. Aber trotz dieses Unterschiedes weisen auch die demokratischen Gesellschaften eine überaus starke Konformität auf. Das liegt daran, dass das Verlangen nach Vereinigung notwendig eine Antwort finden muss, und wenn sich keine andere oder bessere findet, so setzt sich die Herdenkonformität durch.“18 Das totalitäre System würde im Gleichnis einer Liebesbeziehung also etwa dem einer Zwangsehe entsprechen. Aber nur eine Liebe aus freien Stücken kann eine erfolgreiche, nachhaltige und gegenseitige sein: „Die Liebe ist das Kind der Freiheit. Niemals der Beherrschung.“19 Und da nun aber in „Gegen die Wand“ Liebe nur ein Prinzip bleibt, ist nun auch jenes das Prinzip der demokratischen, freien Wahl. In diesem Fall der freien Wahl zum Weiterleben gegenüber der vermeintlich ebenso freien Wahl des Suizids, mit dem der Film begann, hinter der sich aber eigentlich die Unfreiheit der Unglücklichseins verbirgt. Auch ein Prinzip, eine Überzeugung, kann uns stärker machen als wir es zuvor waren. Auch dann, wenn der Bussitz neben uns leer bleibt.
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- Sehr gut verdeutlicht ist dies in der Szene ab 46:22, in der das Selbstverständnis eines repressiven Umgangs mit der Frau an einer „Stammtischrunde“ gegenüber Cahit zum Ausbruch kommt. [↩]
- Mit der Wortzeile „Im Puff heißt es doch ‚griechisch‘, oder? Ich will deine Türkin griechisch ficken.“ hat Akin wohl einer der kraftvollsten und authentischsten Sätze zum Multikulturalismus überhaupt gefunden, der seine Konfusion zwischen dem Werteverständnis der ethnokulturellen Wurzel und der neuen Heimat perfekt zum Ausdruck bringt. [↩]
- bzw. Kokain, Metamphetamin etc. Nicht endgültig aufzuklären [↩]
- vgl. Peter Zerb, „Zur Semantik gesellschaftlicher Freiheit : eine Analyse des Freiheitsbegriffs bei Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Thomas Paine und John Stuart Mill“, S. 21 – 22 [↩]
- vgl. Ebenda, S. 34 [↩]
- vgl. Ebenda, S. 43 [↩]
- Ebenda, S. 21 [↩]
- Roberto Esposito, „Communitas“, S. 15 – 16 [↩]
- Roberto Esposito, „Immunitas“, S. 15 [↩]
- Ebenda, S. 173 [↩]
- Als Teil des Todestriebs vgl. Freuds Abhandlung „Jenseits des Lustprinzipis“ [↩]
- Erich Fromm, „Die Kunst des Liebens“, S. 19 [↩]
- Vgl. Erich Fromm, „Die Kunst des Liebens“, S. 21 – 22 [↩]
- Erich Fromm, „Die Kunst des Liebens“, S. 28 [↩]
- Carl Schmitt, „Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes“ in „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“, S. 623 [↩]
- Roberto Esposito, „Communitas“ S. 42 [↩]
- Roberto Esposito, „Communitas“, S. 46 [↩]
- Erich Fromm, „Die Kunst des Liebens“, S. 23 [↩]
- Ebenda, S. 39 [↩]