
Polymorph pervers.
Originaltitel: Ich seh, ich seh
Alternativtitel: Good Bye, Mommy
Produktionsland: Österreich
Veröffentlichungsjahr: 2014
Regie: Veronika Franz, Severin Fiala
Drehbuch: Veronika Franz, Severin Fiala
Produktion: Ulrich Seidl
Kamera: Martin Gschlacht
Montage: Michael Palm
Musik: Olga Neuwirth
Darsteller: Susanne Wuest, Elias Schwarz, Lukas Schwarz, Ulrike Putzer
Laufzeit: 99 Minuten
In einer abgeschiedenen Hütte, am Rande eines Waldes, warten Zwillinge auf die Rückkehr ihrer Mutter, die von einer Schöhnheits-OP kommt. Doch bei ihrer Ankunft ist nichts wie zuvor, denn die beiden Jungen bezweifeln, dass die Person, die nun in ihrem Haus ist, wirklich ihre Mutter ist …
Quelle: filmstarts.de
Replik:
Wo die großen österreichischen Autorenfilmer um Michael Haneke (zumindest in Relation zur Einwohnerzahl) deutlich größeren internationalen Zuspruch erhalten als das deutsche Autorenkino, dürfte „Ich seh, Ich seh“ auch wie ein Schlag ins Gesicht für die jenigen sein, die den deutschen Genrefilm wieder im Aufwind sahen. Veronika Franz ist die Ehefrau von Uli Seidl und scheint genau von dessen Regie-Philosophie zu profitieren. Ein realistisch-psychologisches Horror-Drama, das kein Hollywoodgeplänkel nachzuahmen versucht, sondern mit klarer Handschrift eigene, mutige Wege bestreitet und zu den Genre-Geheimtipps 2015 gehört.

Ein klug gewählter Handlungsort
„Ich seh, ich seh“ spielt vollständig in einem gutbürgerlichen Einfamilienhaus und obwohl (oder gerade weil) der Film trotz Österreich als Handlungsort auf den Keller als mögliche Spielfläche verzichtet, wird dieses Haus zum Zentrum des Horrors. Es ist ein gut ausgesuchter, wohl durchdachter Drehort, womöglich sogar schon beim Schreiben des Drehbuchs vorentschieden gewesen, so gut ist Veronika Franz‘ Film auf sein Terrain abgestimmt. Aber auch rein atmosphärisch ist die vom Dorf abgelegene, klinisch seriös ausgetattete Kleinvilla ein kluger Schachzug und erinnert an „Funny Games“ aus dem Hause Haneke.
Zuschauererwartungen wie Kinderängste
Achtung: Ab jetzt moderater Spoiler.
Aber nicht nur der Ort scheint bei Austrias Regie-Schaufensterschild abgeschaut worden zu sein. Die beiden Protagonisten, die Zwillinge Elias und Lukas könnten im Laufe des Films immer mehr die Funny-Games-Mörder im Kindesalter sein. Aber bis Franz und Fialla den Kinder-Horror mit diesen beiden Zwillingen neu akzentuieren, findet der Horror zunächst noch an der Seite der Kinder statt. Die Mutter, eine berühmte Moderatorin, benimmt sich nach einer Schönheitsoperation merkwürdig streng und ist auch optisch so verändert, dass man nicht genau weiß, wer sie genau ist. Eine geschickte Täuschungsaktion einer gefährlichen Doppelgängerin? Gar ein Alien? In „Ich seh, ich seh“ scheint zunächt alles möglich. Die grenzenlose paranoide Fantasie der Kinder überträgt sich nahtlos auf den mitdenkenden Zuschauer und die skelettische Hässlichkeit einer Gesichtsoperationsmaske wird hier brutal gut als Horror-Element angewandt. Hier ist der Film im Provozieren von unmöglichsten Verschwörungsszenarien im Grunde auch so etwas wie eine indirekte Medienschelte (irgendwoher müssen die Kinder die Fantasien ja haben).

Das Kindliche, das Bösartige
Dieser unkonventionelle Horrorfilm überrascht mit einem glatten Protagonistenwechsel. Von dem Grusel, der von der Mutter ausgeht, wird mit wachsender Gegenwehr der Zwillinge auf einmal das Kindliche zum Bösartigen. Das gab es zwar schon unzählige Male in der Horrorfilmgeschichte, aber selten mit so einem fiesen Realismus, womit wir wieder bei Haneke wären. Bis auf ein paar ausgewählte Ekel- und Surrealismus-Einlagen ist „Ich seh, ich seh“ wie ein Drama erzählt und bedrückt damit viel direkter den Zuschauer, dessen Horrorerlebnis proportional damit ansteigen dürfte, inwieweit seine gesellschaftliche Realität der von „Ich seh, ich seh“ entspricht. Vor allem Mütter im mittleren Alter mit Lausbuben-Kindern dürften hier wahre Panik-Räusche erleben. Ganz im Stile eines anderen großen Österreichers, nämlich Siegmund Freuds, betonen Franz und Fialla, dass Kinder polymorph pervers, wenn nicht sogar rein bösartig sind. Da ist der viel bessere englische Originaltitel noch zutreffender: Good night, Mommy.
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