Anamnestisches Filmemachen oder: Gedächtnisprotokoll des Lt. K. Wolf
Originaltitel: Ich war neunzehn
Alternativtitel: Ich war 19, I Was Nineteen
Produktionsland: DDR
Veröffentlichungsjahr: 1968
Regie: Konrad Wolf
Drehbuch: Konrad Wolf, Wolfgang Kohlhaase
Bildgestaltung: Werner Bergmann
Produktion: DEFA
Montage: Evelyn Carow
Darsteller: Jaecki Schwarz, Wassili Liwanow, Alexei Eiboschenko, Galina Polskich, Jenny Gröllmann, Michail Glusski, Anatoli Solowjow, Kalmursa Rachmanow, Rolf Hoppe, Wolfgang Greese, Johannes Wieke, Jürgen Hentsch u.A.
Laufzeit: 115 Minuten
Gregor is a young soldier entering Germany with the victorious Soviet troops at the end of WWII. But he is also the child of left-wing Germans who fled from Hitler and spent the war in the Soviet Union. As a result, his return to Germany is ambivalent; he finds he is a stranger in his own land. As they enter Germany, Gregor begins to realize that he is different from all his comrades in arms, for this defeated land is his home country, the Germans he meets are his compatriots. He is a victor, but also one of the vanquished. He attempts to understand the Germans he meets along his way, but he is a 19-year-old: inquisitive, occasionally uncomprehending and repeatedly dismayed by the atrocities and lies he encounters.
Quelle: letterboxd.com
Replik:
Konrad Wolf hat eine sehr außergewöhnliche Biografie. Wer es vielleicht noch nicht weiß: Als Kind überzeugter Kommunisten flüchtete er in den 1930er Jahren — Konrad Wolf war gerade acht Jahre alt — mit seiner Familie von Westdeutschland in das sowjetische Russland aus. Dort nahm Konrad Wolf auch die Staatsbürgerschaft der Sowjetunion an und trat sogar der Roten Armee bei.1 Mit gerade einmal neunzehn Jahren war er Teil der Truppen, die Berlin 1945 eroberten und wurde als Statthalter der kleinen Stadt Bernau bei Berlin eingesetzt, ehe er wieder nach Deutschland emigirierte, dieses Mal in die DDR, wo er eine Karriere als Filmregisseur begann. Für sowjetische Propaganda natürlich eine Bilderbuchkarriere war seine Biografie auch Vorbild für das neue antifaschistische Gesellschaftsideal des jungen deutschen Realsozialismus. „Ich war neunzehn“ erzählt in Tagebuchkapiteln aus dem letzten Kriegsjahr. Und auch wenn die Hauptfigur nicht Konrad Wolf, sondern Gregor Hecker heißt, sind die autobiografischen Bezüge hier mehr als evident. Das Besondere an „Ich bin neunzehn“ ist seine Form als anamnestischer Auteur-Film, seine beeindruckenden Ausdrucksweisen diese biografischen Erinnerungen in Bild und Ton zu setzen.
Konrad Wolfs Biografie als politische Weltenwandlung
„Ich war neunzehn“ wurde in enger Zusammenarbeit mit der Sowjetunion bzw. der Roten Armee produziert, was in einer Zeitgeschichte deutsch-russischer Kriegsfilme schon eine Seltenheit war und bleiben wird und viel mit der biografischen Ausnahmeerscheinung Konrad Wolf zu tun hat. Diese spezielle Biografie ermöglichte es dem damals 43-jährigen Regisseur zwischen den buchstäblichen Fronten des Krieges zu kommunizieren und für beide Seiten ein fairer Anwalt zu sein. Natürlich ist Konrad Wolf Kommunist und Antifaschist gewesen und trotzdem durchdringt dieses Werk eine hohe Empathie für die deutsche Schicksalsgesellschaft zum Ende des Krieges bzw. der Nachkriegszeit. Der verhältnismäßig hochbudgetierte, mit viel russischem Original-Kriegsgerät realisierte Film2 durfte sogar in einer präzisen Andeutung das Tabu-Thema russischer Vergewaltigungen an deutschen Frauen mittransportieren. So sagt die von Jenny Gröllmann gespielte junge namenlose Bernauerin3 den unmissverständlichen Satz „Lieber mit einem als mit jedem„, als sie anfragt, bei dem Protagonisten Gregor Hecker (Jaecki Schwarz) zu übernachten.
Das Wertvolle an „Ich war neunzehn“ als Zeitdokument ist eben diese autobiografische Bezugnahme, dieses anamnestische Filmemachen einer Doppelidentität, eines Deutschen bei der Roten Armee, weil es den Film als ein Gedächtnisprotokoll an den realen Ereignissen und Menschen misst und nicht an politischen Stereotypen. Dabei gelingt Wolf das Kunststück in Haltungsfragen zweifellos antifaschistisch zu bleiben, aber durch das Herausschälen des Menschlichen in jeder Haupt- und Nebenfigur fernab ideologischer Verzerrung zu sein. Die Wolfschen Erinnerungen arbeiten das menschliche Momentum aller Beteiligten heraus — sei es der Rotarmisten, der Wehrmachtssoldaten und selbst noch für die SS-Mannschaften scheint der Anspruch zu gelten, durch anamnestisches Reenactment den Mensch selbst (wieder) zu erkennen. Dadurch unterscheidet sich „Ich war neunzehn“ maßgeblich von Filmen, insbesonders gegenwärtige Produktionen, die SS-Männer entweder pathologisch psychologisieren wollen oder im Genteil als das unpsychologisch Böse phantasieren. Die erinnernde Narration mäandert dabei bisweilen, orientiert sich eben nicht an einer rotfädigen Dramaturgie, sondern an für sich stehenden Momenten, die auch dem Publikum in Erinnerung bleiben: Der blinde Wehrmachtssoldat, der die rotarmistische Uniform des Protagonisten nicht sehen kann und so nichtsahnend mit ihm ein Pläuschen unter Deutschen hält z.B. Oder der SS-Wachmann, der mit dem Protagonisten Gregor Hecker ganz sachlich über die Zukunft Deutschlands aus der Perspektive eines überzeugten Nationalsozialisten spricht —zumal beide in Dialekt! —; das alles sind Momente von eindringlicher Wahrhaftigkeit, die mir weitaus näher an das Gewesene heranreichen zu scheinen als das eingeübte Einmaleins der deutschen Studios und Filmschulen, von denen eine ja ironischerweise nach Konrad Wolf benannt ist.
Der anamnestische Film
Wie lässt sich nun der Begriff des anamnestischen Films eingrenzen? Zunächst einmal haben Filme per se natürlich eine Verwandtschaft mit der Erinnerung. Ich habe bereits in meine Analyse zu Kiarostamis „Close-Up“ auf Jacques Rancière hingewiesen, für den Erinnerungen genuin fiktional sind. Darüberhinaus sind autobiografische Filme natürlich in besonderer Weise mit spezifischen, subjekt-gebundenen Erinnerungen verbunden, die also im Gegensatz zum gewöhnlichen fiktionalen Film einen (historischen) Moment konkret in der eigenen Biografie rückbinden und damit verbürgen. Das trifft natürlich alles auf Konrad Wolfs Film zu, was ihn aber wirklich erst zu einem solchen anamnestischen Film macht, ist das Ineinandergreifen des biografischen Inhalts mit einer spezifischen Form, einer Annäherung der filmischen Grammatik an das Wesen des Erinnerns.
„Ich war neunzehn“ verwendet hierzu immer wieder Einsprengsel einer subjektiven Kamera. Immer wieder verselbstständigt sich die bis dahin neutrale, objektive Beobachtungsapparatur hin zu einer POV-Perspektive, die sich zudem in ungewöhnlichen, dem Erinnern nachempfundenen Kamera-Bewegungen klar als solche zu erkennen gibt. Die Kamera sucht z.B. eine Kulisse, die gerade erst vom Protagonisten betreten worden ist, geradezu ab, macht sie zu einem Objekt, das von einem Blick penetriert wird. Nimmt Objekte ins Visier, die prima facie keinen narrativen Wert haben, für das filmische Subjekt hingegen schon, eben einen Erinnerungscharakter haben. Dinge werden auf diese Weise mit einer undefinierten Bedeutung aufgeladen. Eine Bedeutung, die sich als Bedeutung per se zu erkennen gibt (durch Akzentierung der Kamera), aber in der Erzählung selbst weitestgehend irrelevant sind, somit auf das Subjekt außerhalb des Films (das des Regisseurs Konrad Wolf verweisen). In ganz besondere Exemplarität zeigt sich dieser anamnestische Bildmodus anhand der namenlosen Frauenfigur aus Bernau, gespielt von Jenny Gröllmann, die aus einem wegfahrenden Militärlaster gefilmt wird, so als wollte uns die subjektive Kamera damit sagen: diese Frau habe ich nie wieder vergessen, und danach kommt diese Frau auch nie wieder vor! Sie spielt sich aber weiterhin als Erinnerung im Zuschauer ab. Es ist eine Geste, die dem Wesen der Erinnerung, des Nicht-Vergessens, erfolgreich nachspürt. Die Erwähnung und Beschreibung dieses ganz besonderen Moments in dieser Replik ist ja im Grunde genommen Beweis dafür.4 Die Erinnerungen Konrad Wolfs werden zu den Erinnerungen des Zuschauers.
Die Feinheiten der Erinnerung
Roland Barthes schreibt über die Anamnese in Bezug auf den anamnestischen Roman:
„Ich nenne Anamnese die Handlung — Mischung aus Genuss und Anstrengung —, die das Subjekt vollzieht, um, ohne sie zu vergrößern oder zum Schwingen zu bringen, eine Feinheit der Erinnerung wiederzufinden.“5
Es sind diese Feinheiten der Erinnerung, die Konrad Wolf hier zum Ausdruck bringt. Sein stärkstes Mittel ist eben dieser anamnestische Bild-Typ, der bisweilen an Alain Resnais erinnert. Diese starke Biografizität und spezifische Subjektivität darf innerhalb der sonst sehr propagandistischen und schematischen DEFA-Filme als Ausnahmeerscheinung gelten, zeigt aber auch den Stellenwert Konrad Wolfs innerhalb dieses Systems. Die Wirkung von „Ich war neunzehn“ als filmisches Gedächtnisprotokoll wird weiters durch klassische Stilmittel eines Essayfilms erhöht: eine Sprecherstimme, die Einteilung in Tagebuch-Kapitel und nichtzuletzt auch die Verwendung dokumentarischer bzw. archivmaterieller Bild-Typen, teilweise kommentiert, teilweise als gleichwertige Episoden.6
Obwohl man natürlich nicht in den Kopf Konrad Wolfs hineinsehen kann (heute noch weniger als damals), scheint mir der bestimmte nüchtern-sachliche Gestus, wie Wolf seine Soldaten, auf deutscher wie auf russischer Seite, inszeniert, an diesen „Feinheiten der Erinnerung“, wie Barthes sie nennt, orientiert. Wie ein Mensch spricht, wie er sich bewegt, welche Werte er angesichts des nahenden Todes noch hochhält oder nicht — vielleicht wurde vieles davon von Konrad Wolf gar nicht einmal verstanden, aber er hat es doch gesehen, gehört, erlebt, internalisiert und er hat mit diesem Film einen Weg gefunden, dem einen Ausdruck zu verleihen.
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- Insbesondere hinblicklich der starken Stigmatisierung und Verfolgung von Deutschen während des Zweiten Weltkriegs wegen (vermeintlicher) Kollaboration mit den Nazis ist diese Biografie wohl eine ziemliche Ausnahmeerscheinung. [↩]
- Wenngleich der Auftritt mehrerer AK-47-Gewehre historisch hochgradig unauthentisch gewesen sein mag [↩]
- über die Bernauerin wird weiter unten noch zu sprechen sein [↩]
- Zudem ist sie Konrad Wolfs ultra-subtiler Hinweis auf das Schicksal deutscher Frauen unter der Herrschaft der Roten Armee, sobald der wohlwollende Kommandant die Stadt verlässt. Von solch feinen politischen Nuancen ist „Ich bin neunzehn“ keinesfalls arm. [↩]
- Roland Barthes, Über mich selbst, übersetzt von Jürgen Hoch, München: Matthes & Seitz 1978, S. 117-120 [↩]
- Mehrere Minuten aus dem Dokumentarfilm „Todeslager Sachsenhausen“ von Richard Brandt aus dem Jahre 1946 werden ohne Kennzeichnung des Autors als selbstständiger Teil der Komposition eingesetzt [↩]