Taubstumm in der Ukraine: Schönheit und Schaurigkeit des Primitiven.
Originaltitel: Плем’я (Plemya)
Produktionsland: Ukraine, Niederlande
Veröffentlichungsjahr: 2014
Regie: Miroslav Slaboshpytskiy
Drehbuch: Miroslav Slaboshpytskiy
Produktion: Iya Myslytska, Valentyn Vasyanovych
Kamera: Valentyn Vasyanovych
Montage: Valentyn Vasyanovych
Darsteller: Grygoriy Fesenko, Yana Novikova, Roza Babiy, Oleksandr Dsiadevych, Yaroslav Biletskiy, Ivan Tishko, Oleksandr Osadchyi, Oleksandr Sydelnykov u.A.
Laufzeit: 130 Minuten
Das Drama The Tribe handelt von einem taubstummen Teenager, der sich in einer Internatsschule zurechtfinden muss. Der Film ist komplett in Zeichensprache (ohne Untertitel) erzählt.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Ein Film ganz ohne Sprache, mit kaum Geräuschen. Ein Film über ein Internat für Taubstumme in der winterlichen Ukraine, der auch ganz gezielt auf Untertitel verzichtet, den Zuschauer also in eine limitierte Lage zwingt und seine handwerkliche, bemerkenswert konsequent umgesetzte Herausforderung auch zu der des Rezipienten werden lässt. Das ist „The Tribe“ von Miroslav Slaboshpytskiy. Ein höchst anspruchsvoller, ungemütlicher und in seiner eisigen Ästhetik einzigartiger Kunstfilm. Seine handwerkliche Konzeption weist dabei immer wieder auf den auf dem ersten Blick dokudramatisch anmutenden Kern des Films hinaus, sodass „The Tribe“ auch als ein philosophisches, doch wortloses Traktat, als ein Liebesfilm, ja sogar ein Horrorfilm verstanden werden kann.
Ein Taubstummeninternat: „Alienation“
Eines der wichtigsten Werkzeuge des Films ist sein Entfremdungseffekt, der sich bereits durch die Wahl seines Sujets ergibt. Dieses Internat taubstummer, ukrainischer Heranwachsender gibt es vermutlich so oder so ähnlich tatsächlich. Die Wirkung, die diese Mikro-Welt, in der Menschen nurch durch Mimik und Gestik artikulieren können, in denen es keine Musik, keine Stimmen, keine Eleganz von verbaler Kommunikation gibt, ist, obwohl sie eben tatsächlich so existieren mag, für den Zuschauer eine kalte, ungestüme Gesellschaft, mit der er sich kaum identifizieren kann. Diese Identifikationslosigkeit ist nicht etwa eine Schwäche des Films, sondern eine raffinierte Strategie. Das englische Wort alienation trifft es noch besser, was in „The Tribe“ passiert, denn die Figuren, die im Taubstummen-Internat aufeinander treffen, verhalten sich durch ihre Behinderung tatsächlich aus dem Verhalten, das wir mit dem Menschsein verbinden, mehr oder minder stark enthoben. Es ist ein wesentlich triebhafterer, wilderer und direkterer Umgang miteinander als wir ihn aus „unserer Welt“ kennen. Manchmal — so deutlich, aber gleichzeitig nicht negativ gemeint — kommt uns das Verhalten der Internatsschüler wie dem von Affen oder eben Außerirdischen (alien) vor.
Vielfalt sprachlicher Schönheit, Effekte eines Wegfalls
Und der Titel „The Tribe“ befeuert diese Betrachtungsweise natürlich noch zusätzlich. Hier geht es tatsächlich um einen „Stamm“ oder eine „Sippe“, die sich in vielen Bereichen prä-kulturell verhalten (muss). Was bedeutet hier der Wegfall von Sprache?
Die Präzision des Wortlauts: Missverständnisse entstehen und erzeugen Konflikte.
Die Möglichkeit von Gleichzeitigkeit: Kommunikation kann hier nur stattfinden, wenn der Kommunikationspartner auch gesehen wird. Dadurch wird Kommunikation physischer, hektischer, aber auch direkter (und somit in gewisser Weise auch intimer).
Die Möglichkeit ihrer Umkehrung: Ironie/Sarkasmus in Gebärdensprache ist zwar rein theoretisch vorstellbar, aber aufgrund fehlender Betonungsvariationen umständlich umzusetzen. Daher ist es auch kein Zufall, dass die Menschen in „The Tribe“ vollkommen ironielos miteinander umgehen (und ist Ironie nicht auch eine erst kulturell erworbene Fähigkeit des Menschen?) Selbst, als der Bully unseren Protagonisten Serhiy zum Beginn des Films in ein Damenzimmer schubst und sich anschließend mit einem stummen Lacher darüber lustig macht, scheint hier einzig sein Machteffekt Amüsanz auszulösen, nicht aber so etwas wie eine ironische Pointe.
Und zu guter Letzt die Schönheit des Lautes, ihre Musikalität und ihre Erotik: Wenn man also davon ausgeht, dass Kultur und Soziokultur Hand in Hand gehen und somit Limitierung und Restriktionen innerhalb soziokultureller Werte auf kulturelle Schönheiten rekurrieren und sich daraus legitimieren (wie es der Klang der Sprache z.B. ist), könnte man ein vages Verständnis dafür gewinnen, warum die Gemeinschaft in „The Tribe“ so triebgesteuert und primitiv ist.
Fehlen der Musik, transportiertes Unwohlsein
Hier zahlt sich die gnadenlose Konsequenz des Films aus. Denn auch wir, als Zuschauer, hören keine Musik, kaum Geräusche — und wenn nur hässliche, dumpfe und zerstörerische, jedenfalls keine klasssische Schönheit des Klangs — und auch beinahe keine Sprache. Hier bewegt sich der Film an einer gefährlichen Nähe zur Manieriertheit, denn es ist ja beileibe nicht so, dass in diesem Film keine nicht-stummen Figuren vorkommen. Aber auch diese reden nicht, wenn man mit ihnen über Prostitution verhandelt, schreien nicht, wenn man sie überfällt usw. Das ist nicht ganz logisch und ertappt den Film dabei, ein bestimmtes Muster auf Biegen und Brechen durchzwängen zu wollen, wenn diese Prämisse auch großartig sein mag. Später gibt es dann doch eine Szene, bzw. Einstellung, in denen man einen Haufen an Menschen dabei sieht, wie sie zur Auswanderung nach Italien an der italienischen Botschaft anstehen. Hier liegt ein ukrainisches Murmeln in der Luft und jenes ist im Prinzip die klügere Lösung, das Konzept des Films aufrechtzuerhalten, ohne in Unrealismus zu verfallen. Denn diese Sprachbrocken sind undeutlich zu hören und eh nur Alltagskauderwelsch. Man hört gar nicht erst hin, selbst wenn man ukrainischer Zuschauer ist. Auch so kann man Sprache also aus dem Film nehmen, ohne seine narrative Logik zu unterminieren. Was aber eben so grandios am filmischen Strategem ist, auf Wohlklang von Sprache, Musik und Geräusch komplett zu verzichten, ist, dass dadurch die Frustration und Zwecklosigkeit der taubstummen Menschen in ihrem triebhaften Miteinander auf den Zuschauer übertragen werden kann. Das Fehlen der Musik im Taubstummenleben wird hier auch zum Fehlen der Musik im Zuschauer. Hier wird emotionale Vergletscherung und Unwohlsein transportiert, ganz anders als etwa Lou Yes (nicht minder gutes) Blinden-Drama „Tui Na — Blind Massage„, das über die würdevolle Schönheit einer solchen Sinnes-Limitierung philosophiert.
Triebhafte Subversivität als einziges Auswegsszenario?
Aber vielleicht ist „The Tribe“ auch viel mehr ein Film über eine soziale Randgruppe, denn tatsächlich um eine spezifische Behinderung. Die Taubstummen sind pathologisiert und isoliert von einer gesellschaftlich überlegenen Gruppe (dem ukrainischen Staat / der ukrainischen, gesunden Restbevölkerung), die durch Zusammenführung der Taubstummen glaubt, den organisatorischen Aufwand, diese Mensche in der Gesellschaft zu halten, minimieren zu können und somit dem taubstummen Individuum auch helfen zu können. Tatsächlich verhält sich diese Isolation, zumindest in der vorliegenden ukrainischen Ausführung (und hier mag der Film auch seine politische Dimension haben) aber als ein Gefängnis. Die Taubstumme sind in ihrem Internat zusammengepfercht und von der Restbevölkerung weitestgehend ferngehalten. Sie sollen Berufe lernen, die trotz ihrer Behinderung die Gesellschaft voranbringen kann und sind dabei streng hierarchisch unterworfen. Die Anschlusslosigkeit zur Gesellschaft, die von der Behinderung ausgeht, verhält sich deckungsgleich mit der Anschlusslosigkeit, die vom Status eines (Ex)-Häftlings, also Verbrechers, ausgeht und damit in Frustration und einem Nothing-to-lose-Gefühl gipfelt. Philip Kochs Film „Picco„, der eine Jugendvollzugsanstalt thematisiert, hat schon gezeigt, wie eine Isolation einer Randgruppe mit eben diesem Gefühl, ohnehin bereits Verlierer der Gesellschaft zu sein, eine triebhafte, primitive Subversivität hervorbringt. Gewalt und die ihm naheliegende, leidenschaftslose Sexualität als Machtdemostration sind die Ergebnisse, ebenso in „Picco„, wie auch in Slaboshpytskiys Film „The Tribe“. Interessant auch, wie die Zuhälter, die das jugendliche Internat kontrollieren und für ihre Prostitutionszwecke ausnutzen, aufgrund ihrer perfekten Gebärdensprachenfähigkeiten vermutlich ebenso ehemalige Internatsschüler sind. Gibt es aus diesem Gefängnis kein Entrinnen, außerhalb der Kriminalität?
Am Rande zum Horrorfilm
Seinen schwierigen Pessimismus kann der Film aber als atmosphärische Triebfeder produktiv machen. In „The Tribe“ scheint alles möglich. Spontane Ausbrüche von brutaler Gewalt und faszinierend radikaler Sexualität stehen hier teilweise technisch elaborierten Plansequenzen mit mehreren Ortswechseln und statischen, minutenlangen Einstellungen, deren informativer Wert gering ist, gegenüber. Der Film erzeugt eine kühle, unberechenbare Düsterheit, durch die sich nicht durch- oder vorausblicken lässt. Höchstens als ebenso triebisches Wesen, das der Film dem Zuschauer aber ja gar nicht gönnt zu sein, da er ihn in eine distanzierte und reflektierende Perspektive drängt. Aber der Ekel, der Schock, gleichzeitig seine Faszination und womöglich somit auch Schönheit von Sex und Gewalt in diesem Film lassen ihn ganz subjektiv für jeden Betrachter anders als verstörendes Werk am Rande des Horrorfilms oder eben auch als bewundernde Betrachtung von Primitivität und antikultureller Schlichtheit verstehen.
Liebe als eigentlichster Kern
Und diese positive Betrachtungsweise der nach soziokulturellen Maßstäben absolut amoralischen und asozialen Vorgänge des Films, lässt dieser nur zu, indem er wie kaum ein anderer Film das Thema Liebe, samt ihrem nicht gänzlich unähnlichen Gegensatz oder Komplement des Hasses, behandelt. Im Kern von „The Tribe“ steht ein wirklich rührender, zutiefst menschlicher Liebesfilm. Erst recht spät, da ist die Frau der Begierde bereits schwanger und später bei einer illegalen Abtreibung, kann man im Film erst klar sagen, dass die triebische, sexuelle Obsession, die der Protagonist Serhiy zu diesem Mädchen treibt, Liebe sein muss. Denn das Mädchen möchte nach Italien ausreisen (und somit möglicherweise die einzige Gelegenheit wahren, aus dem kriminellen Moloch des Internats auszubrechen) und somit auch aus dem Leben Serhiys treten, deren Liebe sie nicht im selben Maße erwidert. Sex findet zwischen den beiden nur statt, wenn Serhiy es geschafft hat, durch Kriminalität an Geld zu kommen, das er dem Mädchen geben kann. Dieses Mädchen hat zwar (körperliche) Liebe möglicherweise auch nur durch Prostitution kennengelernt, allerdings erscheint die Abtreibung, die in einer furchtbar intensiven Einstellung durchexerziert wird, bereits als klare Absage an seine Liebe. Diese Figur, Serhiy, verhält sich nun aber wie ein Tier gegenüber dem drohenden Verlust. Er möchte den italienischen Pass/Visum (?) vernichten, statt den Weg der Kommunikation zu suchen. Letztendlich handelt er aus Liebe auch als er im Schlussakt zu brutalster und hinterhältigster Gewalt greift. Hass und Liebe liegen nah beianander. Beides sind tiefe menschliche Emotionen und beide sind, so will man gemeinhin zumindest behaupten, wertungslos betrachtet absolut prä-kulturell und primitiv.
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