2019, das letzte Jahr einer Dekade der Umverteilungskämpfe zwischen Mann und Frau, Kino und VoD, dem vermeintlichen Gestern und dem vermeintlichen Morgen, ist vorbeigegangen. Es war kein besonders herausragendes Jahr für den Film. Es haben sich wenig große neue Regie-Stimmen bemerkbar gemacht. Als neue filmhistorische Entwicklung kann man vielleicht höchstens noch den südkoreanischen Genre-Film nennen, der sich mit der völlig verdienten Goldenen Palme in Cannes endlich seine kanonische Krone geholt hat.
Das bestkuratierteste Festival fand dieses Jahr jedoch am Lido von Venedig statt. Trotz oder (dieses Jahr) gerade weil, der Wettbewerb mal wieder einen schweren Fokus auf angelsächsische Produktionen hatte. Es war ein fantastisches Jahr für englischsprachige Filme und mit „Joker“ hat man dort den Hauptpreis ein Film gegeben, der zwar von zweifelhafter Qualität ist, aber irgendwie ist eben auch einfach alles zweifelhaft an diesem Film. Und das macht diese Entscheidung zu einem Ausrufezeichen, einem Politikum und einer Kontroverse zwischen Produktion und Publikum. Während man in Berlin einen auf fast schon perverse, feuilletonlobbyistische Weise autorenfilmartigen Autorenfilm ausgezeichnet hat — „Synonymes“, der nur mit Bezug auf seinen Regisseur funktioniert — ist „Joker“ ein Monstrosität. Und wäre eigentlich eine Gelegenheit gewesen vom Superheldenkonsumkinogänger bis zum cinehipsterigen Soziologiestudenten jeden Zuschauer zu einer Diskussion einzuladen, die mit neunmalklugen Verweisen auf seine Scorsese-Anleihen noch längst nicht ausgeschöpft gewesen wäre. Dass es diese ganzgesellschaftliche Debatte nicht gegeben hat, sagt viel über unsere Gesellschaft aus.
Apropos Scorsese. Der hatte dieses Jahr einen Kleinkrieg mit Marvel angefangen, weil Marvel ihm nach kein Kino sei. Stattdessen kooperierte der Altmeister mit Netflix, das wiederum für die Oscars und Cannes nicht zum Kino dazugehört. Tatsächlich ist die Frage, wer oder was eigentlich Kino ist in Zeiten der Erosion des Kinos als Ort, eine relevante und unerschöpfliche. Dabei ist die Antwort zumindest bezogen auf Netfflix ganz einfach: Solang Netflix Filme wie „The Irishman“ produziert und ihnen auch die Gelegenheit bietet, diese vorab im Kino zu sehen, solange muss man Netflix für ihre Verdienste am Kino würdigen. Denn mit „The Irishman“ zeichne ich auf diesem Blog schon das zweite Jahr in Folge eine Netflix-Produktion als beste des Jahres aus — dabei habe ich nicht einmal einen Netflix-Account. Solang Prestigeprojekte wie „Irishman“ und „Roma“ nur als Oscar-Vehikel und Arthouse-Feigenblatt fungieren, muss die Debatte über Netflix‘ zerstörerische Rolle in dieser Kunst weitergehen, sollte sich Netflix aber darüberhinaus mit einer glaubwürdigen Dauerhaftigkeit als Mäzen großer Auteur-Filme etablieren, müssen wir dieses vermeintlich trojanische Pferd, das dort wiehend vor den Toren von Cannes steht, mit wehenden weißen Fahnen hineinwinken.
Eine Auffälligkeit von 2019 war zudem die Dominanz von Genre-Filmen. Genre-Filme sind mit ihrem Bedachtsein auf schematische(re) Dramaturgien selten ästhetische Neuerfindungen des Rades oder ideale Träger relevanter Themen. Dieses Jahr war das anders. Das hängt viel damit zusammen, dass einige kommende Auteurs dem Genre-Kino verhaftet sind und mit ihrer Neuinterpretation tradierter Formen unserer Gegenwart gerechter werden als so mancher Auteur des kargen Realismus. Bong Jon-Hoo ist so ein Fall: In einem klassischen Sozialdrama hätte man wohl keineswegs so effektiv-allegorisch den Neoliberalismus kritisieren können wie in dieser meisterhaft symbolischen Überzeichnung. Aber auch ein Jordan Peele, Robert Eggers oder (und vor allem) Ari Aster, die sich anschicken das Horrorkino neu zu erfinden. Auf ästhetischer Ebene, durch starke Anleihen des Epischen und Lyrischen wie im Falle von Eggers und Aster oder inhaltlich mit einer besonderen Affinitität zur allegorischen Lesbarkeit der Körperverhältnisse einer Gesellschaft, wie bei Peele.
Noch einmal zurück zu Scorsese: Der hat in diesem Jahr seinen eigens gegründeten Genre-Film des romanhaften Gangsterfilms genommen und ihn dank Netflix-Budget weiter romanhaft zerdehnt. Einigen war das zu langweilig, aber von denen hat den Film vermutlich auch niemand im Kino gesehen. Für jene, die die Gelegenheit hatten, in dem Film zu versinken, erweist sich diese Strategie als letzte Konsequenz zur Übertreffung einer eigenen Form, statt nur ihrer ewigen Wiederaufnahme. Da passt es auch, dass ich dieses Jahr mit S. Craig Zahler einen weiteren Regisseur entdeckt habe, der mit „Dragged Across Concrete“ etwas ganz ähnliches voranbringt. Die epischen Inseln des In-einem-Auto-wartens erzeugen hier „Haptik“ und damit Spannung. Auch das ist ein Genre-Filmemacher. Und auch das ist eines der vielversprechendsten neuen Stimmen im Filmdiskurs.
10-29% Zustimmung 139. „Ready Player One“ (Steven Spielberg, 2018) 138. „Inferno By Dante“ (Boris Acosta, 2018) 137. „Erik & Erika“ (Reinhold Bilgeri, 2018) 136. „Recreational Activities“ (Pawel Wendorff, 2018) 135. „Flawless“ (Sharon Maymon & Tal Granit, 2018) 134. „Bohemian Rhapsody“ (Bryan Singer, 2018) 133. „Three Little Dreams“ (Chapour Haghigat, 2018) 132. „Douche“ (Erik Kammerland, 2018) 131 „Actors Of God“ (Arsalan Baraheni, 2018) 130. „The Man Who Bought The Moon“ (Paolo Zucca, 2018) 129. „Cargo“ (Bruno Gascon, 2018) 128. „A Good Woman Is Hard To Find“ (Abner Pastoll, 2018) 127. „Animal World (Lam Can-Zhao, 2018) 126. „Das melancholische Mädchen“ (Susanne Heinrich, 2019) 125. „Hidden Treasures In The Mountain“ (Dao Nan Wang, 2018) 124. „52 Words for Love“ (James Blokland & Andrea Moodie, 2018) 123. „Die letzte Party deine Lebens“ (Dominik Hartl, 2018) 122. „Hotel Auschwitz“ (Cornelius Schwalm, 2018) 121. „When I Am A Moth“ (Zachary Cotler & Magdalena Zyzak, 2018) 120. „Softness Of Bodies“ (Jordan Blady, 2018)
30-39% Zustimmung 119. „Es war einmal Indianerland“ (Ilker Catak, 2017) 118. „Chippa“ (Sadar Raman, 2018) 117. „Rafael“ (Ben Sombogaart, 2018) 116. „Signal Rock“ (Chito S. Roño, 2018) 115. „Avengers 3: Infinity War“ (Anthony Russo & Joe Russo) 114. „Permanent Green Light“ (Dennis Cooper & Zac Farley) 113. „A Tale Of Three Sisters“ (Emin Alper, 2019) 112. „Anthem Of A Teenage Prophet“ (Robin Hays, 2018) 111. „Fight Girl“ (Johan Timmers, 2018) 110. „Synonymes“ (Nadav Lapid, 2019) 109. „Savage Youth“ (Michael Curtis Johnson, 2018) 108. „Acid“ (Aleksandr Gorchilin, 2019) 107. „Nevrland“ (Gregor Schmidinger, 2018)
40-49% Zustimmung 106. „Garten“ (Peter Schreiner, 2018) 105. „Ich war zuhause, aber …“ (Angela Schanelec, 2019) 104. „The Wife“ (Björn Runge, 2017) 103. „Die Rüden“ (Connie Walter, 2019) 102. „Portuguese Woman“ (Rita Azevedo Gomes, 2018) 101. „Diamantino“ (Gabriel Abrantes & Daniel Schmidt, 2018) 100. „A Quiet Place“ (John Krasinski, 2018) 099. „Sowas von da“ (Jakob Lass, 2018) 098. „The Whistlers“ (Corneliu Porumboiu, 2019) 097. „Two For Joy“ (Tom Beard, 2018) 096. „Rosalie“ (Moussa Djigo, 2018) 095. „Two For Joy“ (Tom Beard, 2018) 094. „A Colony“ (Geneviève Dulude-De Celles, 2018) 093. „The Third Wife“ (Ashleigh Mayfair , 2018)
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