„Alles ist jetzt möglich“ oder das Artefakthafte des Fremden.
Originaltitel: Victoria
Alternativtitel: My Name Is Victoria
Produktionsland: Deutschland
Veröffentlichungsjahr: 2015
Regie: Sebastian Schipper
Produktion: Jan Dressler, Sebastian Schipper
Kamera: Sturla Brandth Grøvlen
Montage: /
Musik: Nils Frahm, DJ Koze, Deichkind
Drehbuch: Sebastian Schipper, Olivia Neergaard-Holm, Eike Schulz
Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yiğit, Max Mauff, André M. Hennicke
Laufzeit: 140 Minuten
Victoria (Laia Costa) ist eine junge Frau aus Madrid. In Berlin lernt sie vier Jungs kennen, namentlich Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yiğit) und Fuß (Max Mauff). Während für Victoria der Abend eigentlich schon dem Ende entgegenging, drehen die Jungs erst richtig auf: Sie haben noch eine Sache zu klären. Bei dieser gewissen Sache handelt es sich jedoch um etwas Illegales und ehe sich Victoria versieht, fungiert sie als Fahrerin des Fluchtwagens bei einem Coup, der jedoch gewaltig schief läuft. Was als unüberlegtes Spiel angefangen hat, verwandelt sich schnell in eine ernste Angelegenheit. Und die Konsequenzen sollen alle Beteiligten für immer verfolgen.
Quelle: moviepilot.de
Replik:
Eine Schande! Ein innovativer, handwerklich brillanter und auch handlungstechnisch durchaus cleverer Film räumt beim Deutschen Filmpreis ab und die großen deutschen Kinoketten scheren sich einen Dreck um die Veröffentlichung dieses kleinen Wunderwerkes. Und „Victoria“ ist beileibe kein manieriertes Kunstdrama oder ein klassisches deutsches Problem- oder Geschichts-Filmchen, bei dem der Otto-Normal-Verbraucher erschöpft aufkeuchen muss und wieder seine „Ich schaue keine deutschen Filme“-Keule schwingen kann. Nein, die Geschichte, die „Victoria“ erzählt, könnte eigentlich in ihren Grundzügen aus Hollywood stammen. Sie ist ein Klischee und auch nicht besonders komplex. Das Wunder, das in „Victoria“ liegt, ist der filmhandwerkliche Eigenwert, der sich qualitativ international messen lassen kann und das ohne Amerika nachplappern zu müssen als sei es die deutsche Außenpolitik unter Merkel. „Victoria“ ist eben kein „Who Am I„, bei dem man sich stolz auf die Schultern klopft, dass er so aussieht wie Hollywood. „Victoria“ sieht aus wie „Victoria“, darin liegt die Sensation. Eine Sensation, durchaus auch mit kommerziellem Potenzial, aber das wird traurigerweise überall übersehen.
(Nicht ganz spoilerfrei!)
Dreh-Dispositiv erzeugt Sog-Wirkung
Eine einzige Nacht wird in „Victoria“ geschildert, in einem einzigen Take. Das ist das, was der Film als seine Besonderheit kommuniziert. Aber das Besondere ist der Sog seiner Atmosphäre, die sich aus dieser Dreh-Idee ergibt. Für den Film gab es kein Drehbuch, nur ein Treatment, die Dialoge wurden vollständig improvisiert. Aus diesem Druck, dass mit einem Schauspiel-Fehler ein ganzer Drehtag, Unmengen finanzieller Reserven, Nerven des gesamten Teams etc. verloren gehen würden, entwickelt „Victoria“ seine psychologische Strahlkraft der Anspannung, die sich 1zu1 auf den Zuschauer überträgt, auch wenn er das Dreh-Dispositiv dahinter gar nicht wahrnimmt, weil er vom Sog der Handlung mitgerissen wird. Aber man merkt diese Aggressivität im Spiel der Figuren, ebenso wie die authentische Freude, das lebendige Feiern in den Berliner Clubs, weil hier tatsächlich Schauspieler feiern, streiten, lieben und fürchten die einen Grund dazu haben. Somit fallen die Schauspieler-Motivationen mit denen der Figuren überein, auch die Figuren des Films haben ja schließlich einen riskanten Plan umzusetzen, der eine Menge mit lückenloser Choreografie, hoher Konzentration und dem kontrollierten Ausbruch bzw. der Zurückhaltung der Emotionen zu tun hat.
Verlust der Authentizität?
Das Drehbuch bzw. Treatment des Films hätte in seinen Grundzügen genauso gut auch einem furchtbar schlechten Teeny-Gangsterdrama wie „Gangs“ mit Jimi Blue zugrunde liegen können. Sebastian Schipper demonstriert hier, ähnlich wie Nicolas Winding-Refns „Drive“, dass jedes simple Drehbuch allein durch die Form qualitative Quantensprünge vollziehen kann. Die Atmosphäre, die „Victoria“ durch seine Dreh-Strategie entwickelt, ist das Kapital des Films, das ausgespielt wird, um die exponentiell ansteigende Spannungskurve des Films glaubwürdig zu machen. Hier scheiden sich aber wohl die Geister, ob bzw. wann der Film den Faden seiner Authentizität verliert. Denn spätestens beim großen Finale im Luxushotel ist „Victoria“ zwar noch durchaus realistisch in seiner Darstellung, aber eben mindestens ein Kommentar auf große Gangsterfilmvorgänger. Dieses Luxus-Hotel, ergibt sich zwar logisch aus der Handlung, ist aber dadurch, dass es ein Luxus-Hotel ist, ein Verweis auf Rise-&-Fall-Gangster-Epen wie „Scarface“, die ihre Protagonisten auch klassischerweise demonstrativ im Prunk und Protz scheitern lassen.
Strategische Exposition
Beginnen tut „Victoria“ als unscheinbares Durch-die-Nacht-Drama mit unspektakulären, aus dem Leben gegriffenen Figuren. Aber, so minimal sie erscheint, die Figurenkomposition in „Victoria“ ist ein Genuss. In ihrer Simplizität liegt ihre Wucht. Die vier „Berliner Jungs“ mit den grandios absurden Spitznamen Sonne, Boxer, Blinker und Fuß (!, wer denkt sich sowas aus?) sind ungebildete Kleinkriminelle mit einem Hauch nicht-zugezogenem Lokal-Patriotismus. Aber der Zuschauer erfährt eben nur so viel wie man über Menschen an einem Club-Abend eben erfährt. Dadurch bleiben alle Figuren spannend und unberechenbar und trotzdem entwickelt sich eine Empathie des Mittendrins. Der Zuschauer vertraut den Figuren. Eine einzige Szene, in der Victoria sich als virtuose Pianistin entpuppt, deren Traum der großen Musikkarriere aber geplatzt ist, verwendet der Film taktisch als Exposition, um Victorias Bereitschaft für die folgende Odyssee durch Berlin zu psychologisieren. Diese Szene wird aber nicht verheizt, sondern mit bemerkenswerter Eleganz ausgespielt. Die inszenatorische Geduld (die dem Film später leider etwas verloren geht), gibt der Szene Intimität und Intensität, die sie braucht, damit sie nicht zur Alibi-Exposition verkommt. Ganz nebenbei eine absolut erotische Szene. Wer diesen Moment des „Noch auf einen Kaffee reinbitten“ kennt (und das werden wohl die meisten tun), weiß wie realitätsnah diese prä-koitale Stimmung hier eingefangen wird.
Die Macht der Spontaneität
Die Nacht ist in „Victoria“ eine Metapher für die absolute Möglichkeit und die Macht der Spontaneität. Dieser Film ist wie die Visualisierung des von Drogen und Musik belebten Blitzgedankens „Alles ist jetzt möglich.“ Und auch wenn der Film noch besser gewesen wäre, wenn er ab der zweiten Partyszene, kurz nach dem erfolgreichen Bankraub, geendet hätte, da der Film danach inszenatorisch nicht mehr so gut funktioniert wie zuvor, lässt sich auch die nachfolgende Handlung in diese Metapher einbinden. Denn auch die Atmosphäre der durchzechten Nacht, des Immer-noch-Wachseins, transformiert Schippers Film brutal gut. Und gleichzeitig macht der Film hier unmissverständlich klar, dass sich die absolute Möglichkeit auch im Negativen als Worst-Case artikulieren kann. An dieser deutschen Moral-Verhaftung kann man sich aber stoßen. „Spring Breakers“ hat das cleverer gelöst, in dem auch Rausch und Verkaterung gleichermaßen auftreten, ohne dem Film aber moralisch etikettieren zu müssen (außer natürlich in der legendär bescheuerten deutschen Kino-Version).
Eine doppelte Artefakthaftigkeit des Fremden
Viel wurde über den Film auch erzählt, er sei ein totaler „Berlin-Film“, was ja interessant ist, da Sebastian Schipper vor 15 Jahren mit „Absolute Giganten“ bereits einen totalen Hamburg-Film gedreht hat. Aber ist er das wirklich? Eigentlich nicht. Partynächte, Fremdsein in Metropolen und Bankräube könnte es auch in jeder anderen beliebigen Großstadt geben, auch wenn der Berliner Soziolekt, samt deutschelndem Englisch, sicher einen großen atmosphärischen Reiz des Films ausmacht. Wichtiger ist hier aber die Exotik des Fremden (im doppelten Sinne des Wortes „Fremden“). Zum einen das Leben in der Fremde als ein Neubeginn, der die Vergangenheit hinter sich lassen will und sich im neuen Lebensentwurf diametral zur Vergangenheit stellen will. Diese, zugegeben nicht besonders innovative, Motivation hat die Titelfigur Victoria. Zum anderen der bzw. die Fremde Victoria aus Sicht der Berliner Jungs, die wie ein heiliges Artefakt für die Gruppe fungiert. Denn der Berliner Gruppe liegt wiederum eine gegensätzliche Motivation gegenüber der Victorias zugrunde. Ihnen geht es nicht darum, ihre Vergangenheit zu verdrängen, sondern ihrer Vergangenheit, die gleichzeitig auch ihre Gegenwart ist (nämlich das Leben spärlich gebildeter Kleinkrimineller mit wenig Perspektive oder Zukunftsvisionen), positiv aufzuladen, indem sie sich wiederum als „exotisch Fremdes“, eben als „Ur-Berlinerisches“, ausgibt (alle anderen Deutschen in Berlin seien ja nur „zugezogen“). Hier thematisiert „Victoria“ also ein doppelseitig Artefakthaftes des Fremden.
Zu viel Unterhaltungsfilm?
Das zentrale Anliegen des Films, seine Prämisse der totalen Möglichkeit einer einzige Nacht mit filmhandwerklichen Mitteln zu unterstreichen, gelingt ihm zwar generell ordentlich, aber manchmal auch noch mit fehlender Konsequenz. Manche Szenen sind unrealistisch kurz und erkaufen durch Einsatz von Musik eine zeitliche Straffung, die keinen Sinn ergibt, wenn der Film doch vorgibt, in Echtzeit zu laufen. So z.B. die Partysequenzen. Schipper ging es in seinem Film schon darum, einen Unterhaltungsfilm zu machen. Man merkt hier und da seine Furcht davor, zu langweilen. Und so sind seine Choreografien zu überladen an Ereignissen, seine Ruhephasen vor allem gegen Ende zu kurz und sein Handlungstreiben vergisst manchmal, dass es doch um das Treiben und nicht so sehr um die Handlung in diesem Film gehen sollte. „Victoria“ wäre, wie bereits erwähnt, ein konsequenterer und nicht minder spektakulärer Film, wenn er nach dem erfolgreichen Bankraub in dem Club geendet hätte. Vielleicht mit Polizei-Sirenen im Hintergrund, als Open-End. Werden die Figuren in ihrem Musikrausch geschnappt oder nicht?
„Victoria“ geht weiter als es vielleicht gut für ihn/sie wäre. Man muss aber eingestehen, dass das immer noch ziemlich brillant umgesetzt ist. Dass der Mittendrin-Effekt einer unzerstörbaren Kamera-Nähe dem Film eine Wahrhaftigkeit gibt, die man bei keinem Film mit vergleichbarer Handlung so sehen konnte.
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Ich kann dir nur zustimmen. Ist schon fast unheimlich, dass wir mal einer Meinung sind. ;-)
Hallo Bobby, uns gefallen deine Kritiken, schreib mir doch mal eine mail.
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